170827 Bonn spricht

Yes, we could

Auf dem Bahnhof Köln Messe/Deutz war diese Woche wieder Deutschlands Zukunft zu besichtigen: adipöse Typen mit Haarzopf, bleiche Schlackse mit leichten Verhaltensauffälligkeiten, hyperaktive Pubertiere mit Energy Drinks – sie kamen zurück von der Gamescom, der inzwischen größten Messe für Computerspiele gleich nebenan. Sie unterschieden sich nicht nur im Aussehen und im herdenhaften Verhalten von den anderen Reisenden an den Gleisen – sie waren auch die einzigen, die nicht lauthals über die 45-minütige Verspätung des ICE aus Richtung Düsseldorf schimpften.

Kein Wunder: Viele von ihnen waren zuvor schon bereit gewesen, rund drei Stunden Wartezeit in Kauf zu nehmen, um dann 20 kurze Minuten bislang nicht veröffentlichtes Spielematerial ausprobieren zu dürfen. Die Attraktivität von Computer- und Online-Spielen hat so stark zugenommen, dass sich die Branche inzwischen zum tragenden Element der Software-Szene hierzulande stilisiert. Mehr als eine Milliarde Euro Umsatz hat sie im ersten Halbjahr 2017 reingespielt, rund die Hälfte davon durch Software-Käufe, der Rest sind Abonnements, Gebühren und Mikroumsätze für virtuelle Güter. Und weil das Ökosystem dahinter so interessant ist, ruft der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware auch gleich nach Subventionen, um mit den internationalen Größen mithalten zu können – getreu dem Motto: wir könnten ja, wenn man uns ließe.

Offensichtlich ist auch die Gaming-Branche von jenem Staats-Virus infiziert, der in vielen Wachstumssegmenten zu einem „Yes, we could“ führt. Wir bleiben hinter unseren Möglichkeiten, weil der Staat entweder nicht richtig subventioniert, die Falschen subventioniert oder zu wenig interveniert und investiert.

Wie selbstverständlich gilt beispielsweise der Breitbandausbau als politische Verantwortung, obwohl es doch zunächst einmal um die Schaffung einer Infrastruktur geht, die die Geschäftsgrundlage der Telekommunikations-Betreiber darstellt. Aber gleichzeitig geht es um Wirtschaftsförderung für den Industriestandort Deutschland. Während die Bundesregierung kaum noch das Ziel erreichen wird, 50 Mbit-Leitungen flächendeckend bis 2018 bereitzustellen, wächst der Bedarf bereits nach 500 Mbit-Geschwindigkeiten, damit das Internet der Dinge, die Telemedizin, das autonom fahrende Auto Wirklichkeit werden können.

Aber auch Autobahnen stellen ja die Geschäftsgrundlage von Transportunternehmen dar, ohne dass sich die Logistiker anders als über die Lkw-Maut daran beteiligen. Public-Private-Partnership hat im Straßenbau noch immer Seltenheitswert. Aber dieses Modell wäre ganz grundsätzlich ein gangbarer Weg für den Ausbau der Infrastrukturen im Land – nicht nur auf dem Land, zu Wasser und in der Luft, sondern auch im Cyberraum.

Denn es hapert überall – nicht nur am Bahnhof Köln Messe/Deutz, wo die Reisenden die Fernwirkungen des Rastatter Lochs, der Baustellenpanne an einer der am meisten befahrenen Bahntrassen Europas, zu spüren bekommen. Wer nur ein wenig weiter nördlich und südlich schaut, findet zwei Rheinbrücken – in Leverkusen und Duisburg – in einem solch maroden Zustand, dass nur noch eingeschränkter Lastverkehr darüber geleitet werden darf. Die Schiersteiner Brücke zwischen den Landeshauptstädten Mainz und Wiesbaden war sogar total gesperrt.

Und auch hier hat der Staats-Virus längst zugeschlagen: Denn zwar sieht der aktuelle Verkehrswegeplan bis zum Jahr 2030 zusammengenommen 142 Milliarden Euro für den Erhalt bestehender Verkehrsinfrastrukturen vor, aber Experten sagen schon jetzt, dass damit nicht einmal der bestehende Sanierungsrückstau bewältigt werden kann. Und viele Bauprojekte benötigen von der Beschlussfassung bis zum ersten Spatenstich ein gutes Jahrzehnt, wenn sie wegen des selbst verursachten Personalmangels in den Behörden überhaupt in Angriff genommen werden. Von den drei Milliarden Euro beispielsweise, die für die Behebung von Hochwasserschäden bereitgestellt worden waren, ist nicht einmal ein Drittel tatsächlich abgerufen worden. Wir würden ja, wenn wir könnten, heißt es aus den Ämtern.

Man muss gar nicht an Bauprojekte wie den Berliner Flughafen und den Stuttgarter Hauptbahnhof erinnern, um Mahnmale für die deutsche Infrastrukturmisere zu finden. Jede Kommune kämpft mit ihren eigenen Projekten, für die entweder die Mittel fehlen oder bei denen die bereitgestellten Mittel wegen Planungsverzug nicht abgerufen werden können. Man hört Karl Valentin in seinem Grab meckern: „Mögen hätte ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.“

Tragisch wird das alles noch dadurch, dass sich mit dem Sanierungsrückstau auch ein Innovationsrückstau verbindet. Wir könnten das Bahnnetz weniger anfällig für Störungen machen, Verkehrsleitsysteme smarter, Breitbandverbindungen flächendeckend schnell, Planungsvorhaben beschleunigen, Bürokratie verschlanken… Der stärksten Wirtschaftsnation Europas fehlt es dazu nicht an Geld. Aber ihr schwinden die Kräfte – vor allem Fachkräfte.

Wenn der digitale Wandel gelingen soll, dann benötigen wir eine Infrastruktur, auf der die neuen Geschäftsmodelle aufsetzen können. Ihre Bereitstellung ist nicht allein Aufgabe des Staates. Jetzt haben auch die Game-Entwickler das bewährte Modell der Wirtschaftsverbände übernommen, nach dem Staat zu rufen, um die eigenen Versäumnisse auszubügeln. Das Gleiche haben die Banken in der Finanzkrise und die Automobilindustrie in der Dieselkrise getan. Doch dieses Modell führt nicht zu einem herzhaften „Yes, we can“, sondern bislang leider nur zu einem verzagten „Yes, we could“.

 

 

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