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Die Schlafwandler

Das altbekannte Lied vom orientierungslosen Mittelstand, der wie ein Schlafwandler durch die Nacht des digitalen Wandels irrt, hat jetzt eine unüberhörbare Zweitstimme erhalten: Auch die börsennotierten Großkonzerne werden von Unternehmenslenkern geführt, die kaum nennenswerte digitale Kompetenz aufweisen. Schlimmer noch: den Vorständen wird sogar überhaupt unternehmerische Kompetenz abgesprochen. Gründergeist, die Fähigkeit zur Transformation und Entrepreneurship sind in den Chefetagen der deutschen Aktiengesellschaften seltene Tugenden.

Zu diesem starken Urteil kommen jedenfalls Prof. Dr. Julian Kawohl, Inhaber der Professor für Strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (htw) in Berlin, und Dr. Jochen Becker vom Investment Lab Heilbronn nach der Lektüre von gut 400 Lebensläufen der DAX- und MDAX-Vorstände. Süffisant urteilt der Management-Professor Kawohl in seiner Studie, dass die wichtigsten börsennotierten Unternehmen bei der Besetzung der Vorstandteams großen Nachholbedarf hätten, wenn es um die Kompetenzfelder Entrepreneurship, Gründergeist und Digitalerfahrung gehe. Offensichtlich werde der unternehmerische Ansatz bei der Auswahl von Vorständen nicht hoch genug bewertet.

Damit befindet sich der so oft gescholtene deutsche Mittelstand in bester Gesellschaft – was die Orientierungslosigkeit in Bezug auf die Digitalisierung angeht. Dagegen werden aber gerade den Familienunternehmen Bestnoten bei der unternehmerischen Kompetenz verliehen. Dabei ist es eher Augenmaß als Risikofreude, was die mittelständischen Lenker antreibt, die deshalb auch angesichts der digitalen Herausforderung ebenso zögerlich sind wie die Konzern-Vorstände.

Hinzu kommt, dass mittelständische Geschäftsführungen und DAX-Vorstände deutlich überaltern. Ein Durchschnittsalter von 52,6 Jahren hat die Studie demnach ergeben. Nur ein Prozent aller Vorstände kommt aus der sogenannten Generation Y – also der nach 1980 Geborenen. Und dieses eine Prozent befindet sich praktisch komplett in der Chefetage von Zalando, wo das Durchschnittsalter bei 33,7 Jahren liegt. Dabei, so zeigen andere Studien, nimmt die Bereitschaft zur Innovation und Investition ohnehin im Alter ab. Darunter leidet vor allem der deutsche Mittelstand mit seinem hohen Anteil an Unternehmern im Rentenalter.

Nur jedes zwölfte Vorstandsmitglied bringt nach der Kawohl-Analyse überhaupt so etwas wie Digitalkompetenz aus dem vorherigen Job mit. Da ist es geradezu folgerichtig, dass die deutschen Konzerne bislang vor allem Abwehrmaßnahmen gegenüber der digitalen Transformation eingeleitet haben. Erst allmählich bricht sich dabei auch ein Verjüngungsprozess Bahn. Es gehört inzwischen zum guten Unternehmerton, einen Chief Digital Officer einzukaufen, der typischerweise von einem der Internet-Giganten wie Apple, Amazon oder Google abgeworben wurde. Sie sollen nach und nach die Schlafwandler in den Chefetagen aufwecken.

Nur wenige Unternehmen finden Gnade vor dem vernichtenden Urteil des Management-Professors. Allen voran und nicht wirklich überraschend gilt SAP als das digitalste unter den DAX-Unternehmen. Dahinter folgen Adidas, Airbus, Beiersdorf, Deutsche Bank und Deutsche Telekom. Und SAP-CEO Bill McDermott ist in den Augen der Analysten geradezu ein Vorzeige-Unternehmer. Dass der US-Amerikaner zugleich auch der mit Abstand am besten verdienende DAX-Chef ist, bekommt somit im Nachhinein noch ein professorales Placet.

Man mag die Studie als überzogen ablehnen und den Daimler-Chef Dieter Zetsche als lebendes Gegenbeispiel hervorheben, dass auch unter angejahrten Unternehmern so etwas wie der Wille zur Erneuerung zu finden ist. Tatsächlich aber lassen sich die Fakten nicht von der Hand weisen: die deutschen Unternehmer ergrauen, die Vorstandsetagen vergreisen.

Darin liegt eine ungeheure Chance. Wer heute durch die digitale Hintertür in die Chefetagen vordringt, hat gute Chancen, die Transformation der deutschen Wirtschaft aktiv zu gestalten. Es liegt an den Aufsichtsräten und Firmeninhabern diesen Verjüngungsprozess voranzutreiben und die Schlafwandler zu wecken. Das ist nicht ganz einfach, sagen Schlafforscher, aber ungefährlich.

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