190325 Notlage

Digitale Notlage

 „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!“ – Nach diesem Motto aus dem keynesianischen Werkzeugkasten funktioniert antizyklische Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsliberale ergänzen hingegen: „Spare in der Not, da hast du Zeit!“ Der Mittelstand, so hat es den Anschein, verfolgt beide Prinzipien: er spart in der Zeit und in der Not.

Dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre des „Finanzierungsmonitors 2019“ auf, den der Finanzdienstleister creditshelf zusammen mit der TU Darmstadt jetzt herausgegeben hat. Danach befürchten zwei von drei Unternehmen in Deutschland, dass die digitale Transformation sie finanziell überfordern könnte. Oder anders ausgedrückt: In den zurückliegenden Quartalen der Hochkonjunktur fehlte ihnen die Zeit, jetzt – bei sinkenden Wachstumsraten – fehlt ihnen das Geld für den digitalen Wandel.

Dabei räumen drei von vier Unternehmern der Digitalisierung hohe oder höchste Priorität ein. Das Problem ist jedoch, dass sich Banken und Kreditinstitute bei der Finanzierung von immateriellen Digitalprojekten nach wie vor schwer tun. Seit der Bankenkrise 2008/2009 herrscht das Prinzip der zugeknöpften Taschen. Wenn Unternehmen während der Hochkonjunktur Kredite aufgenommen haben, um die Aufträge und Projekte vorzufinanzieren, dann fehlen ihnen jetzt die Mittel, die digitale Erneuerung voranzutreiben. Allerdings haben laut Deutschem Sparkassen- und Giro-Verband die Firmen die guten Zeiten auch genutzt, um die Eigenkapitalquote von durchschnittlich 30 Prozent um zehn Prozentpunkte anzuheben.

Dass sich in der Kreditpolitik auf absehbare Zeit etwas ändern könnte, ist nicht zu erwarten: Denn Digitalisierungsprojekte sind von ihrer Natur her risikogeneigt. Es geht nicht um die Weiterentwicklung bestehender Prozesse, bei denen sich Unternehmen auf die eigene Erfahrung und Innovationskraft stützen können, sondern um die disruptive Umwälzung ganzer Geschäftsmodelle und Branchenmechanismen durch die Plattform-Ökonomie und die Sharing Society. Aus Angst vor dem Scheitern schrecken erst die Kreditgeber und dann die Unternehmer zurück.

Das ist gefährlich für einen Standort wie Deutschland, in dem 95 Prozent der Unternehmen klein oder mittelständisch strukturiert sind. Sie sehen sich selbst als „Digital Follower“ und vernetzen ihre Fertigungssysteme im Internet der Dinge. Dabei verfolgen sie aber die gewohnten Bahnen der bisherigen Geschäftsausrichtung und setzen auf mehr Effizienz, Kostensenkung und Prozessoptimierung. Neue Märkte, veränderte Produktstrategien oder intensivierte Kundenbeziehungen mit Hilfe von Big Data, Cloud Computing und künstlicher Intelligenz zu erobern – dieser Ansatz ist hierzulande noch kaum verbreitet. Und genau da liegt das tatsächliche Risiko.

Der Mittelstand automatisiert seine Prozesse vor allem deshalb, weil er sich auf den demografischen Wandel einstellen muss, in dem sich der Fachkräftemangel weiter verschärfen wird. Wo Menschen fehlen, müssen Maschinen aushelfen. Es reicht aber auf lange Sicht nicht mehr aus, höhere Margen anzustreben, schneller zu produzieren und weiter zu exportieren. Die digitale Transformation führt zu völlig neuen Marktmechanismen, in denen die Beziehungen zum Kunden und die Reaktionsfähigkeit, auf seine Sonder-Wünsche einzugehen, über das Geschäft entscheiden.

Der „Prosument“ akzeptiert es nicht mehr, wenn eine Ware heute zwar in rot verfügbar ist, im gewünschten Blau aber erst nächste Woche. Die Abo-Gesellschaft bewertet die Verfügbarkeit eines Produkts höher als ihren Besitz: Warum ein Auto finanzieren, wenn man eins leihen kann? Warum Lebensmittel bevorraten, wenn sie innerhalb von zwei Stunden geliefert werden? Warum Bücher kaufen, wenn man ihren Inhalt downloaden kann?

Wir befinden uns in einer digitalen Notlage, weil den Unternehmen die Visionen für das Marktgeschehen von morgen fehlen. Und wir befinden uns in einer digitalen Notlage, weil die Kreditwirtschaft die tatsächlichen Visionäre nicht finanziert. Das gilt für den Mittelstand von heute ebenso wie für Startups – dem Mittelstand von morgen.

 

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