Warum, zum Teufel, sollte Microsoft eine zweistellige Milliardensumme ausgeben, um eine scheinbar unbedeutende App zu kaufen, die Jugendliche mit selbstgemachten Videos versorgt? Weil es der Präsident so will? Weil man an 100 Millionen Usern allein in den USA nicht vorbeigehen kann? Nein, weil hinter TikTok, dem Video-Netzwerk des chinesischen Anbieters ByteDance, ein Algorithmus steckt, der die Mechanismen der Aufmerksamkeits-Industrie komplett aus den Angeln heben könnte. Wer mit genügend Paranoia ausgestattet ist, könnte vermuten, dass die künstliche Intelligenz hinter TikTok nicht nur den Aufmerksamkeits-Wettbewerb bei Menschen unter 30 gewinnt, sondern früher oder später auch Wahlen beeinflussen könnte – vielleicht noch nicht die am ersten Dienstag im November. Aber für die Zukunft könnte gelten: Amerika, aufgepasst!
Es ist ein interessantes Phänomen, dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika, seit dem zweiten Weltkrieg unangefochtener IT-Hegemon, jetzt plötzlich Sorgen entwickeln, von einer fremden Macht dominiert zu werden. Für uns Europäer ist dieses Gefühl ein praktisch unumstößliches Erbe der Nachkriegsordnung. Erst IBM, dann Microsoft und Intel, heute Facebook, Google, Apple und Amazon – wir sind derart daran gewöhnt, dass unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben von US-Unternehmen gestaltet wird, dass wir uns die Augen reiben, wenn jenseits des Atlantiks die Vorstellung Panik auslöst, unter den Einfluss eines chinesischen Startups zu geraten. Aber genau das passiert gerade.
Und in der Tat: ByteDance, die Mutter des Video-Dienstes TikTok, die US-Präsident Donald Trump bis zum kommenden Wochenende entweder verbieten oder kaufen (lassen) will, ist alles andere als ein Papiertiger. Das weltweit größte Startup, das nach dem Engagement des Venture Capitalist SoftBank kürzlich mit 140 Milliarden Dollar bewertet wurde, ist im Begriff, den globalen Sieg im Wettbewerb um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das Unternehmen könnte in Kürze zu den Tech-Giganten Amazon, Apple, Facebook, Google und eben auch Microsoft aufschließen. Und natürlich zu Tencent, Alibaba und Baidu, den chinesischen Tech-Giganten. Das und nicht die vorgeschobenen Bedenken wegen Datensicherheit und Privatsphäre treibt den amerikanischen Präsidenten um. Und deshalb will er einen „Deal“.
Weltweit hat TikTok bereits 800 Millionen User – jeder achte davon lebt in den USA. Die App für selbstproduzierte Ego-Videos ist damit etwa so groß wie Snapchat, das bei seinem Börsengang auf einen Schlag 33 Milliarden Dollar wert war. Das dürfte ungefähr das Preisschild für Microsoft sein, das dem eigenen Bekunden nach lediglich die TikTok-Operations in den USA, Australien, Neuseeland und Kanada übernehmen will. Zum Vergleich: die Übernahme des sozialen Netzwerks LinkedIn kostete Microsoft 26,5 Milliarden Dollar. Dessen Integration ist noch kaum richtig abgeschlossen.
Die Einbindung von LinkedIn in die Office 365-Suite ergab und ergibt auf den ersten Blick Sinn. Doch warum sollte Microsoft TikTok kaufen? Die Gefahr, dass die 100 Millionen US-amerikanischen User fluchtartig die App deaktivieren und sich dem nächsten Hype zuwenden könnten, ist schließlich ziemlich groß. Die Antwort: hinter TikTok verbirgt sich ein KI-Algorithmus, der deutlich innovativer ist als die Codes von Google oder Facebook, mit denen User-Profile angelegt und ausgewertet werden und mit denen – dies vor allem – individuelle Werbebotschaften vermittelt werden. Denn wie bei allen sozialen Netzwerken ist auch bei TikTok der User nicht der Kunde, sondern das Produkt.
Google und Facebook werten User-Profile vor allem aus vergangenheitsbezogenen Daten heraus aus. Wer viele Likes oder Friends hat, bekommt auch künftig viele Likes und Friends. Wer mit einem Video Erfolg hatte, hat gute Chancen, auch mit dem nächsten Post viral zu gehen. Oder anders ausgedrückt: Google kennt nicht das beste Steak in den USA, aber es kennt das Steakhaus mit den meisten und besten Bewertungen. Diese Vorgehensweise ist ein klassisches Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft: Erfolg hat, wer bereits Erfolg hatte. Deshalb – dies sei nebenbei erwähnt – sind Präsidentschaftskandidaturen in den USA auch so teuer. Sie zeigen, der „Potus“ ist vor allem potent.
ByteDance nutzt offensichtlich eine vollkommen andere Herangehensweise, die davon profitiert, dass alle Vorlieben der User überwacht werden können. Dabei werden nicht so sehr die Daten derer bewertet, die Inhalte posten, sondern von jenen, die sich diese Inhalte anschauen. Diesen eher konfuzianischen Denkansatz hat ByteDance nicht nur in TikTok implementiert, sondern allen seinen – vor allem in China erfolgreichen – Apps zugrunde gelegt. Vom Newsfeed, der kein klassisches Nachrichtenportal, sondern eine Plattform für selbst-produzierte News ist, über einen Musikdienst bis zum eCommerce-Portal gewinnt ByteDance vor allem in Asien, aber mehr und mehr auch in der westlichen Welt das Rennen im Aufmerksamkeitswettbewerb. In den USA genießt TikTok bereits knapp eine Stunde Aufmerksamkeit pro User pro Tag – ein, zwei Minuten mehr als Facebook. Wenn das junge Amerika aufpasst, dann achtet es inzwischen ebenso sehr auf Angebote aus China wie aus dem eigenen Land.
Das ist es, was Donald Trumps Berater umtreibt. Aber sollte es auch Satya Nadella, den CEO von Microsoft umtreiben? Diese Woche wird noch viel in Hinterzimmern antichambriert! Die Jüngeren können diesen Begriff ja googlen. Oder gleich bei ByteDance nachfragen – denn eine Suchmaschine gibt es von diesem Startup auch längst.
Und wir Europäer? Wir diskutieren über eine eigene Cloud-Infrastruktur, die nach der Einschätzung von Akatech-Präsident Karlheinz Streibich ohnehin zehn Jahre zu spät käme. Und wir diskutieren über die ethischen Implikationen von künstlicher Intelligenz, während wir längst unsere Seelen an US-amerikanische oder chinesische Algorithmen verkauft haben. Wenn Amerika aufpasst, leiden wir Europäer unter einem massiven digitalen Aufmerksamkeitsdefizit – besser bekannt unter dem Kürzel ADHS.