Grundrecht auf Datenweitergabe

Letzte Woche hat meine Corona-Warn-App angeschlagen. Sie teilte mir mit, dass ich an einem bestimmten Tag  eine Begegnung mit niedrigem Risiko mit einer später Corona-positiv getesteten  Person hatte. Mehr erfuhr ich von dieser App nicht.

Ich habe daraufhin meinen Kalender gecheckt und festgestellt, dass ich an diesem Tag eigentlich zuhause war – bis auf einen Routine-Besuch bei meinem Hausarzt. Dort habe ich dann angerufen und der Praxishelferin mitgeteilt, dass ich nur beim Aufenthalt im Wartezimmer mit einem später Corona-positiv getesteten Patienten in Kontakt gekommen sein kann. Aber „natürlich“ konnte man mir nicht sagen, mit wem ich dort zusammengesessen bin. „Wegen Datenschutz“, hieß es.

Dann schränkte die Kanzlerin in der Konferenz mit den 16 Ministerpräsidenten/innen meine Freiheiten ein – keine unbedingt notwendigen Reisen, keine Feiern mit mehr als einem knappen Dutzend Menschen, keine Gaststättenbesuche, kein Shopping. Begründet wurde dieser Eingriff in meine Freiheitsrechte, also meine Menschenrechte, damit, dass es inzwischen nicht mehr im ausreichenden Maße gelingt, die Ansteckungsketten zurückzuverfolgen. Nur noch 25 Prozent der tatsächlichen Kontakte können von den Gesundheitsämtern nachverfolgt werden. Der Grund: „Wegen Datenschutz“, heißt es.

Wir schränken Freiheitsrechte ein – und das auch noch, ohne die Parlamente vorher mit dieser Notstandsregelung zu befassen. Aber den Popanz Datenschutz lassen wir unangetastet, obwohl die Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung uns mindestens so viel Impuls beim Kampf gegen das Corona-Virus bringen würde, wie das Beherbergungsverbot. Das trifft ein Gewerbe und die Reisefreiheit gleichermaßen. Doch etwas mehr Datenfreiheit würde uns mehr Möglichkeiten geben, das Geschehen um die Virus-Verbreitung besser zu verstehen.

Man muss sich das mal vorstellen. Erst seit wenigen Wochen ist die Angabe von Fake-Names wie Dagobert Duck oder Paul Panther eine Ordnungswidrigkeit, die mit Spielgeld von wenigen Euro geahndet wird. Bis dahin konnte jeder die Nachverfolgung seiner Kontakte als Kavaliersdelikt behindern. Und auch jetzt ist die Ordnungswidrigkeit kaum ernsthaft zu verfolgen. Unsere Ordnungshüter haben echt wichtigeres zu tun, als dummen Witzbolden hinterherzurennen.

Datenschutz ist offensichtlich ein höheres Gut als Gesundheitsschutz. Wäre es anders, würde uns die Corona-Warn-App nicht mit lapidaren Mitteilungen kommen, die keinen handfesten Hinweis auf Kontakte und Nachverfolgbarkeit liefern, sondern eigentlich nur ein ungutes Gefühl schüren. Dass es anders geht, zeigt Südkorea – ein Land, das nicht unbedingt als demokratisches Entwicklungsland gilt. Dort aber geht Demokratie ein positives Verhältnis mit Technokratie ein. Daten sind dort das, was sie tatsächlich sein sollten: ein Rohstoff, aus dem sich Erkenntnis und Ergebnisse gewinnen lassen. Bei uns sind Daten immer noch etwas, was weggesperrt gehört. So handeln wir grundsätzlich – beim Cloud Computing, bei Big Data Analytics, bei der Bekämpfung von Kriminalität oder bei der Erkundung unerkannter Zusammenhänge.

Das kann man nicht mehr anders als paranoid bezeichnen. Und wenn gleichzeitig Millionen Deutsche ihre intimsten Details auf den sozialen Medien breittreten oder in Befragungs-Apps vom Haushaltseinkommen bis zu persönlichen Vorlieben alles preisgeben. Sich im sicheren Datenschutz bewegen und ihn dann bei jeder Gelegenheit ignorieren, das ist – die nächste psychiatrische Diagnose: schizophren.

Also fassen wir zusammen: Wir schränken fundamentale Freiheitsrechte ein, ohne dafür den eigentlich vorgesehenen demokratischen Prozess einzuhalten, lassen aber das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung unangetastet, obwohl es uns dabei helfen würde, die Nachverfolgbarkeit signifikant zu verbessern. Stattdessen begründen wir die Einschränkung unserer Freiheiten auch noch damit, dass wir wegen einer unzureichenden Datenbasis drei von vier Nachverfolgungen nicht abschließen können. Gehts noch?

Wir brauchen ein Grundrecht auf Datenweitergabe im Notfall. Und diesen Notstand haben wir doch längst ausgerufen. Es gibt keinen Grund, dieses Freiheitsrecht, das die meisten Deutschen sowieso freiwillig mit Füßen treten, unangetastet zu lassen. Es wird Zeit für eine öffentliche Debatte über unser Verhältnis zu Daten. Ich freue mich auf Ihre Kommentare – natürlich nur, wenn sie nicht anonym gepostet werden.