Zukunft – ohne uns?

Man kann das kaum noch glauben: 76 Jahre nach Kriegsende ringt Europa nicht etwa um die Zukunft, sondern darum, wie die Konferenz ablaufen soll, auf der die Weichen zum ökologischen und klimaverträglichen Wirtschaftswachstum, zu neuem sozialen Zusammenhalt und zu mehr Digitalisierung in praktisch allen Lebensbereichen gestellt werden. Wichtiger als diese Zukunftsziele scheinen offenbar Ego-Fragen zwischen EU-Parlament, nationalen Volksvertretungen und der EU-Kommission zu sein. Eigentlich sollte diese Zukunftskonferenz schon vor einem Jahr – also 75 Jahre nach Kriegsende – beginnen. Doch die Debatte um Verfahrensfragen war zu verfahren. Und die Zukunft kommt ja eh – egal, ob wir sie verschlafen oder verdaddeln.

Zwar können die EU-Bürger auf einer Online-Plattform ihre Vorstellungen von ihrer Zukunft verschriftlichen, aber allzu viel Vertrauen scheinen Politiker und Beamte in Europa nicht in das Volk zu haben, dessen Interessen sie eigentlich vertreten sollen. Zu tief sitzt offenbar immer noch der Schock über die Brexit-Abstimmung und über das Plebiszit zur EU-Verfassung, das vor zwei Jahrzehnten in den Niederlanden und Frankreich mit der Ablehnung einer gemeinsamen europäischen Verfassung geendet hat.

Doch Klimawandel und Corona-Pandemie haben die Einstellung der EU-Bürger zu Zukunftsthemen wie Klimaneutralität und digitalem Wandel radikaler geändert als das ihren Interessensvertretern bewusst zu sein scheint. Wie Umfragen belegen, wollen sie eine starke, handlungsfähige und nachhaltig operierende Wirtschaft und eine agile, transparente öffentliche Hand, die sich beide mit aller Kraft der grünen, digitalen Transformation verschreiben.

Welche Auswirkungen diese Zukunftstrends auf unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Miteinander haben könnten, hat jetzt – auch mit Blick auf die Zukunftskonferenz – die Unternehmensberatung Accenture zu Papier gebracht. Sieben Trends, die womöglich das 21. Jahrhundert bestimmen werden:

Collective Displacement: Wir alle teilen dieses Gefühl der Verlagerung und suchen nach neuen Wegen und Orten, um zu arbeiten, einzukaufen, weiter zu qualifizieren, andere Menschen zu treffen, Kinder zu erziehen und unsere Work/Life-Balance neu auszutarieren. Dieser Trend wird auch dann fortdauern, wenn wir unsere persönlichen Freiheitsrechte nach der Pandemie zurückerhalten.

Do it yourself Innovation: DIY – der Trend erobert seit den siebziger Jahren immer neue Lebensbereiche. Jetzt wird es darum gehen, Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben in allen Aspekten kreativer zu gestalten. Die Zahl der Unternehmensgründungen, von Startups. Aber auch von Soloselbständigen wird rapide steigen.

Sweet (und smart) Teams: Accenture erwartet ein Zeitalter des Ausprobierens, in denen neue Formen der Zusammenarbeit, neue Jobbeschreibungen, neue Arbeitsumgebungen entstehen. In den Personalbüros geht es künftig nicht nur um Qualifikation und Kompetenz, sondern um Kulturtechniken und Talente, die auf den ersten Blick nichts mit den unmittelbaren Unternehmenszielen zu tun haben müssen.

Interactive „Wanderlust“: Die User Experience – die Art, wie wir Inhalte am Bildschirm aufnehmen – wird sich rapide wandeln, nachdem wir immer mehr Zeit vor dem Display verbringen. Mehr grafischer Content, mehr Audio/Video-Input wird unsere kognitiven Kräfte, unsere Aufmerksamkeit und unser Auffassungsvermögen auf möglichst abwechslungsreiche Weise in Anspruch nehmen. Gamification – die Nutzung von Spielelementen für betriebliche Zwecke – ist darin ein wesentliches Merkmal.

Liquid Infrastructure: Remote Work, Lieferdienste, individualisierte Produktion, hybride Cloud, Plattform-Ökonomie, KI-Algorithmen – die Unternehmen müssen ihre physische und organisatorische Infrastruktur völlig neu ausrichten, um den Wertschöpfungsprozess vom Lieferanten des Lieferanten bis zum Kunden des Kunden agil und flexibel zu gestalten. Das geänderte Einkaufsverhalten verlangt andere Mechanismen zur Kundengewinnung und Kundenbindung.

Empathy Challenge: Die Menschen machen sich zunehmend Gedanken über die Ziele und das ethische Handeln der Unternehmen, für die sie arbeiten und deren Produkte oder Dienstleistungen sie nutzen. Umgekehrt müssen Unternehmen und Organisationen durch die Art, wie sie sich präsentieren und ihre Angebote designen, deutlich machen, wie sehr sie die Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Kunden verstanden und in Produktdesign und Serviceorientierung umgesetzt haben.

Rituale und Sinnsuche: Das Jahr 2020 hat viele unserer Gewohnheiten ausgelöscht. Ob diese Rituale wieder aufgenommen oder in veränderter Form übernommen werden, hängt von den Ergebnissen unserer Sinnsuche ab. Business Trips werden auch aus Klimaschutzgründen strenger überdacht werden, Lieferdienste trotz aller Bedenken möglicherweise beibehalten. Schon jetzt stellen sich Reiseveranstalter und Logistikunternehmen darauf ein, dass unser Mobilitätsverhalten nach anderen Regeln ticken wird.

Die Trends zeigen, dass menschliches Verhalten immer für Überraschungen gut sein kann. Wir dürfen gespannt sein. Jenseits aller Technologieorientierung, die in Digitalstrategien und Innovationsplänen kursiert, kommt es am Ende doch immer auf den Menschen, seine Kultur und seine soziale Interaktion an. Das ist vielleicht nicht neu, aber das vergangene Jahr hat das Veränderungspotenzial, das darin steckt, wie in einem Brennglas fokussiert. Zukunftsplanungen ohne den menschlichen Faktor hat einfach keine Zukunft. Technologie um ihrer selbst willen ist nutzlos.

Ich bin am 9. Mai vor 76 Jahren geboren – an jenem ersten Friedenstag, den wir heute als Europatag feiern. Ich bin geimpft, gehe jeden Tag zu Fuß – und meine größte Klimasünde dürfte darin bestehen, dass ich jeden Tag die Internet-Server dieser Welt mit Anfragen und Downloads beschäftige. Ich habe für meine Lieben und mich eine Zukunftsperspektive: „Wir brauchen eine starke, handlungsfähige Europäische Union – eine Europäische Union, die den Übergang zu nachhaltiger, klimaneutraler und digital gestützter Entwicklung weltweit anführt.“ – So schrieb es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen mit den 20 anderen Staatsoberhäuptern in der EU in ihrem Aufruf zur Beteiligung an der jetzt gestarteten Zukunftskonferenz. Ich möchte hinzufügen: Wir sollten uns trauen und uns mehr zutrauen. Sonst findet die Zukunft ohne uns statt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wünsche ich mir von Europa zum Geburtstag – pardon: zum Europatag.

Heinz-Paul Bonn bloggt seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Themen der Digitalwirtschaft. Mit HPBonn.Consulting berät er Unternehmen und Persönlichkeiten aus der Szene. Mehr erfahren Sie hier.

Digitale Schizophrenie

Wir wissen ja alle, dass die Impfkampagne gegen das – selbstverständlich erfundene – Corona-Virus nur dem Zweck dient, uns einen Chip unterzuschieben, damit Bill Gates uns alle beherrschen kann. Und dass der erste Versuch, das Gleiche mit ChemTrails zu erreichen, daran gescheitert ist, dass wegen der Pandemie kaum noch Flugzeuge am Himmel sind. Und wir wissen natürlich auch alle, dass die Erde flach ist und Gott sich während des siebentägigen Schöpfungsaktes noch kurz Zeit genommen hat, ein paar Dinosaurierknochen zu verbuddeln, um die Darwinisten Jahrtausende später hinters Licht zu führen…

Das ist nur eine Auswahl der Verschwörungs- und Verblödungstheorien, die unter Querdenkern und sonstigen Querulanten kursieren. Der Phantasie – oder eigentlich: Phantasmagorien – sind keine Grenzen mehr gesetzt. Im Vergleich zum aktuell kursierenden Verfolgungswahn ist der Verdacht, der Staat wolle mit einer Volkszählung den gläsernen Bürger durchleuchten, noch geradezu substanziell. Der Verdacht geisterte zuletzt vor gut einem Jahr durch die Webseiten der Digitalverweigerer, als der Testlauf zum Zensus 2021 gestartet werden sollte: „Lasst euch nicht erfassen“, lautet der Evergreen der Erfassungsverweigerer, seit der Heilige Hollerith 1890 die erste Zählung mit Hilfe von Lochkarten durchführte. Dass der Zensus 2021 auf 2022 verschoben wurde – und das ausgerechnet wegen Corona – führt uns wieder zu Bill Gates und an den Anfang dieser digitalen Schizophrenie.

Dabei hat die Corona-Krise schneller aus Digitalgegnern Befürworter gemacht, als es jede Kampagne hätte leisten können. Das hat jetzt eine Umfrage des Internet-Verbands eco ergeben, die das Meinungsforschungsportal Civey im Auftrag unter gut 5000 für Deutschland repräsentativ ausgewählten Privatpersonen durchgeführt hat. Danach ist praktisch jeder mit dem Stand der Digitalisierung in Deutschland unzufrieden, während zugleich die Ressentiments gegenüber einer mutmaßlichen digitalen Hegemonie vergessen zu sein scheinen: Mit dem Stand der Digitalisierung in der Verwaltung sind demnach satte 96,6 Prozent unzufrieden, im Bildungsbereich liegt dieser Wert mit 96,2 Prozent ähnlich hoch. Bei der digitalen Infrastruktur sind es auch nur 95,1 Prozent.

Zur digitalen Schizophrenie gehört es wohl auch, dass die Mehrheit der Befragten in der CDU/CSU den wahrscheinlichsten Treiber einer zukünftigen digitalen Offensive vermuten – und das, obwohl wir auf ein gutes Vierteljahrhundert an schleppendem Erkenntnisgewinn in Sachen Digitalisierung zurückblicken müssen. Erinnern wir uns:

  • Am 4. März 1994 antwortete der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in der Sendung „Gefragt“ auf die Frage des damaligen Microsoft-Statthalters Christian Wedell, wie es denn nun mit dem Ausbau der Datenautobahn in Deutschland weitergehe, mit dem legendären Satz: „Der Zustand, den wir jetzt auf den Autobahnen haben, ist dergestalt, dass wir wissen, wann wir überhaupt nur noch von Stop and Go auf Autobahnen reden können.“
  • 19 Jahre später, am 19. Juni 2013, überraschte Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgerechnet beim Besuch des damaligen US-Präsidenten Barack Obama mit dem Satz: „Das Internet ist für uns noch Neuland.“
  • Seitdem ist die Digitalisierung von elf Ministern aus drei Parteien in vier Ministerien verschleppt worden mit dem Ergebnis, dass
  • heute der wissenschaftliche Beirat im Bundeswirtschaftsministerium „archaische Zustände“ und „Organisationsversagen“ in der öffentlichen Verwaltung attestiert.

Nachdem die Deutschen in drei aufeinanderfolgenden Volkszählungen sich vor allem als Verweigerer profilierten, haben sie sich unter dem Eindruck des Corona-Virus zu digitalen Vorreitern gewandelt, die nicht nur bereitwillig Persönliches in den sozialen Medien ausplaudern, sondern eine bessere Digitalausstattung in den Schulsystemen fordern, endlich Anspruch auf gigabit-schnelle Leitungen erheben und nicht verstehen wollen, dass eine Behörde nicht auf die Daten einer anderen Behörde zugreifen kann.

Die Bürger sind inzwischen digitaler ausgerichtet als die Institutionen. 60 Millionen Smartphone-Nutzer gibt es hierzulande, die im Schnitt mehr als zehn Apps pro Smartphone verwenden. Unter den 14- bis 49jährigen liegt der Abdeckungsgrad bei 95 Prozent. Sie sind praktisch durchgängig online und surfen aktiv im Schnitt mehr als vier Stunden pro Tag. Hinzu kommen rund zehn Millionen Deutsche, die täglich – und dann vermutlich bis zu acht Stunden – im Home Office online sind, während weitere acht Millionen Arbeitnehmer zumindest teilweise im Remote Workplace arbeiten.

Hier hat der Mittelstand in der Corona-Krise massiv investiert – leider zulasten der Weiterbildung. Nach einer Untersuchung der Kreditanstalt für Wiederaufbau hat rund die Hälfte der Unternehmen – fast zwei Millionen Firmen – die Ausgaben für Qualifizierungsmaßnahmen auf Null zurückgefahren. Bildung hat – so scheint es – keinen großen Stellenwert mehr in Deutschland. Auch diese digitale Schizophrenie hat Methode: Während Deutschland immer abhängiger von Qualifikation und Innovation wird, liegen unsere Schulen nach einer Untersuchung der OECD in Sachen Digitalausstattung hinter Moldawien auf Platz 27 im Ländervergleich. Die Folge: im Lockdown ist Bildung ein Mauerblümchen.

Die Digitalkonzerne haben längst erkannt, wo der wahre Treiber der Digitalisierung sitzt – im Home Office, beim Home Schooling und im Smart Home. Es sind die Privatpersonen, die die digitale Transformation vorantreiben. Das gilt nicht nur fürs Gaming, wo Monat für Monat neue Nutzungsrekorde erreicht werden. Es gilt auch fürs vernetzte Arbeiten, Fahren, Einkaufen, im Gesundheitswesen ebenso wie im Bildungsbereich. Hier werden die künftigen Konzerngewinne entstehen.

Das ist die digitale Schizophrenie: Die Deutschen sind gleichzeitig Bremser und Treiber der Digitalisierung – jeder scheint den Interessenkonflikt ganz privat mit sich selbst auszutragen und kommt je nach Perspektive zu entgegengesetzten Meinungen. Oder ist das auch nur eine weitere Verschwörungstheorie, hinter der – natürlich, wer sonst – Bill Gates steht?

Heinz-Paul Bonn bloggt seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Themen der Digitalwirtschaft. Mit HPBonn.Consulting berät er Unternehmen und Persönlichkeiten aus der Szene. Mehr erfahren Sie hier.