210510 Zukunftskonferenz

Zukunft – ohne uns?

Man kann das kaum noch glauben: 76 Jahre nach Kriegsende ringt Europa nicht etwa um die Zukunft, sondern darum, wie die Konferenz ablaufen soll, auf der die Weichen zum ökologischen und klimaverträglichen Wirtschaftswachstum, zu neuem sozialen Zusammenhalt und zu mehr Digitalisierung in praktisch allen Lebensbereichen gestellt werden. Wichtiger als diese Zukunftsziele scheinen offenbar Ego-Fragen zwischen EU-Parlament, nationalen Volksvertretungen und der EU-Kommission zu sein. Eigentlich sollte diese Zukunftskonferenz schon vor einem Jahr – also 75 Jahre nach Kriegsende – beginnen. Doch die Debatte um Verfahrensfragen war zu verfahren. Und die Zukunft kommt ja eh – egal, ob wir sie verschlafen oder verdaddeln.

Zwar können die EU-Bürger auf einer Online-Plattform ihre Vorstellungen von ihrer Zukunft verschriftlichen, aber allzu viel Vertrauen scheinen Politiker und Beamte in Europa nicht in das Volk zu haben, dessen Interessen sie eigentlich vertreten sollen. Zu tief sitzt offenbar immer noch der Schock über die Brexit-Abstimmung und über das Plebiszit zur EU-Verfassung, das vor zwei Jahrzehnten in den Niederlanden und Frankreich mit der Ablehnung einer gemeinsamen europäischen Verfassung geendet hat.

Doch Klimawandel und Corona-Pandemie haben die Einstellung der EU-Bürger zu Zukunftsthemen wie Klimaneutralität und digitalem Wandel radikaler geändert als das ihren Interessensvertretern bewusst zu sein scheint. Wie Umfragen belegen, wollen sie eine starke, handlungsfähige und nachhaltig operierende Wirtschaft und eine agile, transparente öffentliche Hand, die sich beide mit aller Kraft der grünen, digitalen Transformation verschreiben.

Welche Auswirkungen diese Zukunftstrends auf unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Miteinander haben könnten, hat jetzt – auch mit Blick auf die Zukunftskonferenz – die Unternehmensberatung Accenture zu Papier gebracht. Sieben Trends, die womöglich das 21. Jahrhundert bestimmen werden:

Collective Displacement: Wir alle teilen dieses Gefühl der Verlagerung und suchen nach neuen Wegen und Orten, um zu arbeiten, einzukaufen, weiter zu qualifizieren, andere Menschen zu treffen, Kinder zu erziehen und unsere Work/Life-Balance neu auszutarieren. Dieser Trend wird auch dann fortdauern, wenn wir unsere persönlichen Freiheitsrechte nach der Pandemie zurückerhalten.

Do it yourself Innovation: DIY – der Trend erobert seit den siebziger Jahren immer neue Lebensbereiche. Jetzt wird es darum gehen, Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben in allen Aspekten kreativer zu gestalten. Die Zahl der Unternehmensgründungen, von Startups. Aber auch von Soloselbständigen wird rapide steigen.

Sweet (und smart) Teams: Accenture erwartet ein Zeitalter des Ausprobierens, in denen neue Formen der Zusammenarbeit, neue Jobbeschreibungen, neue Arbeitsumgebungen entstehen. In den Personalbüros geht es künftig nicht nur um Qualifikation und Kompetenz, sondern um Kulturtechniken und Talente, die auf den ersten Blick nichts mit den unmittelbaren Unternehmenszielen zu tun haben müssen.

Interactive „Wanderlust“: Die User Experience – die Art, wie wir Inhalte am Bildschirm aufnehmen – wird sich rapide wandeln, nachdem wir immer mehr Zeit vor dem Display verbringen. Mehr grafischer Content, mehr Audio/Video-Input wird unsere kognitiven Kräfte, unsere Aufmerksamkeit und unser Auffassungsvermögen auf möglichst abwechslungsreiche Weise in Anspruch nehmen. Gamification – die Nutzung von Spielelementen für betriebliche Zwecke – ist darin ein wesentliches Merkmal.

Liquid Infrastructure: Remote Work, Lieferdienste, individualisierte Produktion, hybride Cloud, Plattform-Ökonomie, KI-Algorithmen – die Unternehmen müssen ihre physische und organisatorische Infrastruktur völlig neu ausrichten, um den Wertschöpfungsprozess vom Lieferanten des Lieferanten bis zum Kunden des Kunden agil und flexibel zu gestalten. Das geänderte Einkaufsverhalten verlangt andere Mechanismen zur Kundengewinnung und Kundenbindung.

Empathy Challenge: Die Menschen machen sich zunehmend Gedanken über die Ziele und das ethische Handeln der Unternehmen, für die sie arbeiten und deren Produkte oder Dienstleistungen sie nutzen. Umgekehrt müssen Unternehmen und Organisationen durch die Art, wie sie sich präsentieren und ihre Angebote designen, deutlich machen, wie sehr sie die Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Kunden verstanden und in Produktdesign und Serviceorientierung umgesetzt haben.

Rituale und Sinnsuche: Das Jahr 2020 hat viele unserer Gewohnheiten ausgelöscht. Ob diese Rituale wieder aufgenommen oder in veränderter Form übernommen werden, hängt von den Ergebnissen unserer Sinnsuche ab. Business Trips werden auch aus Klimaschutzgründen strenger überdacht werden, Lieferdienste trotz aller Bedenken möglicherweise beibehalten. Schon jetzt stellen sich Reiseveranstalter und Logistikunternehmen darauf ein, dass unser Mobilitätsverhalten nach anderen Regeln ticken wird.

Die Trends zeigen, dass menschliches Verhalten immer für Überraschungen gut sein kann. Wir dürfen gespannt sein. Jenseits aller Technologieorientierung, die in Digitalstrategien und Innovationsplänen kursiert, kommt es am Ende doch immer auf den Menschen, seine Kultur und seine soziale Interaktion an. Das ist vielleicht nicht neu, aber das vergangene Jahr hat das Veränderungspotenzial, das darin steckt, wie in einem Brennglas fokussiert. Zukunftsplanungen ohne den menschlichen Faktor hat einfach keine Zukunft. Technologie um ihrer selbst willen ist nutzlos.

Ich bin am 9. Mai vor 76 Jahren geboren – an jenem ersten Friedenstag, den wir heute als Europatag feiern. Ich bin geimpft, gehe jeden Tag zu Fuß – und meine größte Klimasünde dürfte darin bestehen, dass ich jeden Tag die Internet-Server dieser Welt mit Anfragen und Downloads beschäftige. Ich habe für meine Lieben und mich eine Zukunftsperspektive: „Wir brauchen eine starke, handlungsfähige Europäische Union – eine Europäische Union, die den Übergang zu nachhaltiger, klimaneutraler und digital gestützter Entwicklung weltweit anführt.“ – So schrieb es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen mit den 20 anderen Staatsoberhäuptern in der EU in ihrem Aufruf zur Beteiligung an der jetzt gestarteten Zukunftskonferenz. Ich möchte hinzufügen: Wir sollten uns trauen und uns mehr zutrauen. Sonst findet die Zukunft ohne uns statt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger wünsche ich mir von Europa zum Geburtstag – pardon: zum Europatag.

Heinz-Paul Bonn bloggt seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Themen der Digitalwirtschaft. Mit HPBonn.Consulting berät er Unternehmen und Persönlichkeiten aus der Szene. Mehr erfahren Sie hier.

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