Prohibitive Schnittstellenstrategie

Für die Mehrzahl der Anwenderunternehmen ist die Cloud inzwischen zum Maß aller Dinge geworden. Ihre CIOs fragen nicht mehr, „ob“ sie die eigene Informationstechnik in die Cloud verlagern sollen, sondern „wie“ sie die neue IT-Infrastruktur gestalten wollen. Eines zeichnet sich dabei ab: sie wollen mehrheitlich nicht einem Cloud Service Provider vertrauen, sondern die Vorzüge mehrerer Angebote in einer hybriden Cloud-Struktur aus mehreren Services nutzen. Und sie wollen nicht von einem einzigen Anbieter abhängig sein müssen.

Damit wiederholt sich nicht nur bei den globalen Konzernen, sondern auch im Mittelstand eine Grundeinstellung zur Diversität, die das Risiko der Abhängigkeiten auf mehrere Schultern verteilen will und gleichzeitig die Rosinen aus den verschiedenen Cloud-Kuchen picken möchte: hier besonders schnelle Datenbanken, da hohe Sicherheitsvorkehrungen und dort zusätzliche Services für künstliche Intelligenz oder das Internet der Dinge. Und nicht zuletzt wollen sie auch heterogene Anwendungswelten in der hybriden Cloud-Infrastruktur so miteinander verknüpfen, dass ihnen ein Wettbewerbsvorteil durch durchgängige Prozesse und Datentransparenz entsteht.

Doch genau das vermissen die Anwender inzwischen bei der SAP. Schon die Integration der eigenen Lösungen gelingt SAP nur unzureichend, lautete die Kritik zur Eröffnung der virtuellen Jahreskonferenz der Deutschen SAP Anwender-Gemeinschaft. DSAG-Vorsitzender Jens Hungershausen, selbst im Hauptberuf als CIO bei der Handwerker-Genossenschaft MEGA tätig, sieht denn auch deutlichen Handlungsbedarf. Nur wenig mehr als ein Viertel der von der DSAG befragten Anwenderunternehmen beurteilte die Integrationsmöglichkeiten der SAP-Lösungen mit gut. Aber 44 Prozent sahen die verfügbaren Schnittstellen als befriedigend. Und jeweils 14 Prozent – zusammen also ebenfalls mehr als ein Viertel, bewerteten die Integration als ausreichend oder gar mangelhaft. „Das Ergebnis sollte von SAP als weiterer, deutlicher Weckruf verstanden werden“, warnte Hungershausen.

Dabei erschallte der Weckruf schon vor Jahren – und die schwache Integrationsleistung hat bei SAP durchaus Tradition. Als SAP vor der Jahrtausendwende Wettbewerber zu Vertriebspartnern machte und vor allem mittelständischen deutschen Anbietern von Unternehmenslösungen das Angebot machte, neben der eigenen Lösung auch eine Vertriebsschiene für das damalige R/3 aufzubauen, da hofften Anwender wie Software-Unternehmer, durch eine bevorzugte Integration mit der SAP-Lösung werde das eigene, meist streng branchenorientiert ausgerichtete Software-Angebot aufgewertet. Doch daraus wurde nichts: zwar bot SAP an, gemeinsam mit den neuen Partnern Schnittstellen zwischen den Systemen zu entwickeln. Doch Aufwände in der Größenordnung von mehreren Tausend Personenjahren wirkten geradezu prohibitiv. Wer auf das Angebot einging, beschleunigte nur die eigene Selbstentleibung.

Das Vorgehen wiederholt sich zwei Jahrzehnte später in der Cloud. Denn zwar betonte SAP-Vorstandsvorsitzender Christian Klein jetzt auf dem DSAG-Event, dass „SAP liefert – bei Innovation und Integration“. Im Jahr 2021 seien 450 Schnittstellen bereits geschaffen worden oder stünden vor der Vollendung. Doch dabei handelt es sich einerseits vielfach um Trivial-Schnittstellen, die andererseits auch auf die Weiterentwicklung der aktuellen Komplettlösung S/4Hana [Sprich: Ess for Hana] fokussiert. Davon haben allerdings drei von vier SAP-Kunden nichts. Sie haben S/4Hana noch gar nicht im Einsatz. Und nur ein Fünftel der SAP-Anwender befindet sich gerade mitten im Einführungsprojekt. Der Rest plant einen Umstieg in der Zukunft oder weiß noch nicht so recht.

Vor allem aber hilft es jenen Anwendern nichts, die eine heterogene Anwendungswelt in einer ebenso heterogenen Cloud-Infrastruktur bevorzugen. Sie wollen beispielsweise Salesforce für das Kundenbeziehungsmanagement neben Microsoft 365 als Produktivlösung und zwei, drei Startup-Plattformen für die Neuausrichtung ihres eigenen Produkt-Ökosystems einsetzen. Sie tun sich schwer mit den hohen Integrationskosten, die SAP ihnen aufbürdet.

Das ist eine gefährliche Situation – für die Anwender ebenso wie für SAP selbst. Denn die Zeiten sind nun mal vorbei, in denen Unternehmen für ihre Geschäftsprozesse alles aus einer Hand wünschen. Die Software-Welt selbst ist wieder so heterogen geworden, wie sie vor der fürsorglichen Umarmung der mittelständischen Softwarehäuser durch SAP schon einmal war. Jetzt sind es nicht die branchenorientierten Unternehmenslösungen, sondern ganze Plattformen, die rund um Anwendungsbereiche wie das Automobil, den Online-Handel oder die Finanzdienstleistung entstehen. SAPs Schnittstellenstrategie wirkt wieder prohibitiv – könnte sich aber diesmal gegen Walldorf selbst richten.

Cloud Wars – die nächste Episode

Der Ton und die Taten in den „Cloud Wars“ werden rauer zwischen Microsoft und Amazon. Zunächst sahen wir die Episode „Die Rücknahme des JEDI-Projekts“, als Amazon-Gründer Jeff Bezos erfolgreich gegen die Vergabe der Joint Enterprise Defense Infrastructure durch das US-Verteidigungsministerium an Microsoft klagte. Dann folgte „Das Imperium schlägt zurück“, als Microsoft im Gegenzug die Vergabe des vergleichbaren NSA-Projekts an Amazon Web Service verhinderte. Jetzt sehen wir so etwas wie „Der Ausstieg Cloudwalkers“, nachdem Microsoft mit Charlie Bell einen der ranghöchsten Manager aus Bezos´ Galaktischem Imperium losgeeist hat: Dass Bell, der künftig als Microsoft Executive Vice President für Cyber-Security zuständig ist und direkt an Satya Nadella berichten wird, auch AWS-Interna ausplaudern könnte, zieht bereits den roten Faden für die nächste Klagewelle zwischen beiden Unternehmen. Und in der Episode „Der Angriff der Cloudkrieger“ sehen wir bereits, wie beide ihre Truppen aus Partnern und Kunden rund um die eigenen Cloud-Angebote scharen. Denn es geht um nicht weniger als um „Das Erwachen der Macht“ in den kommenden Jahrzehnten.

Es geht um Geld – viel Geld! Allein die beiden – letztlich gescheiterten – Infrastrukturprojekte der US-Regierung waren jeweils zehn Milliarden Dollar wert. Und auf ein Vielfaches davon summieren sich die Cloud-Projekte der großen Marken-Anbieter, die rund um ihre Produkte inzwischen eine umfassende Plattform-Ökonomie aus Cloud-Services, Produktneuheiten, Kundenkommunikation und Lieferketten-Integration schmieden. Zuletzt haben sich viele der großen Telekommunikationsanbieter für Megaprojekte in der Cloud entschieden, wobei mehrheitlich Microsoft Azure zum Zuge kam. Dafür sammelt AWS unablässig Neukunden unter den erfolgreichen globalen Startups.  Und beide werden argwöhnisch beäugt von den Cloud-Nachfolgern wie Google oder IBM sowie – mit erheblichem Abstand – SAP.

Amazon Web Services ist seit Jahren Marktführer, hat die Cloud-Idee von Anfang an am konsequentesten umgesetzt und hat in den vergangenen Jahren als de facto Cloud-Standard einen beträchtlichen Vorsprung vor der gesamten Konkurrenz aufgebaut. Dabei kam AWS aus dem Nichts, als 2008 die ersten ernsthaften Cloud Providing-Angebote entstanden und man 3eigentlich IBM als traditioneller Rechenzentrums-Bestücker auf dem Schirm hatte. Doch während das IBM-Klientel mit dem Umstieg zögerte, eroberte AWS einen der dynamischsten Märkte quasi im Alleingang: die Welt der Unicorns, in der Startups binnen Kurzem zu milliardenschweren Konzernen heranwuchsen – wie übrigens auch Amazon selbst. Doch seit einem halben Jahrzehnt erzielt Microsoft mit Azure, Microsoft 365, Dynamics 365 und Office 365 beeindruckende Gewinne und verzeichnet ein exponentielles Wachstum.

Dabei sind konkrete Marktzahlen kaum zu bekommen, weil weder Amazon, noch Microsoft ihre Cloud-Umsätze in den Geschäftszahlen präzise ausweisen. Unsicherheit kommt auch dadurch hinzu, dass nie ganz klar ist, was eigentlich gezählt wird: Denn während Azure die Grundlage für wahlweise Software-, Infrastructure- oder Platform as a Service ist, kommen auch die ERP-Lösung Dynamics und die Produktivitäts-Suite Office mehr und mehr aus der Cloud. Und seit diesem Sommer ist auch Windows aus der Cloud heraus im Angebot. Rechnet man dies alles raus, dann führt AWS unverändert mit 32 Prozent Marktanteil gegenüber 19 Prozent für Azure. Angeschlagener Dritter wäre dann Google mit sieben Prozent, wobei auch hier die Cloud-Dienste wie Gmail rausgerechnet werden.

Der Grund für Microsofts bahnbrechende Aufholjagd dürfte wohl in einem klassischen Hase-und-Igel-Szenario liegen: „Ick bün all hier!“ Windows, Office, Microsoft Server, SharePoint etc. sind in vielen Unternehmen gesetzte Lösungen und leben auch unter Azure fort – nur statt On-Premises nun in der Cloud. Und auch die Active-Directory-Dienste von Microsoft sind grundlegend für etablierte IT-Strukturen. Sie sind nur schwer durch AWS abzulösen, aber ohne weiteres nach Azure zu verlagern.

Und das dürfte – neben attraktiven Lizenzangeboten für Organisationen – der Hauptgrund dafür sein, dass Microsoft Azure nun seit Jahren auf der Überholspur fährt: es ist vergleichsweise einfach, die bestehende Microsoft-Infrastruktur von der IT vor Ort in die Azure Cloud zu verlagern oder – ebenfalls ein bevorzugtes Geschäftsmodell von Microsoft – in einer hybriden Infrastruktur aus (mehreren) Cloud-Instanzen und IT-Lösungen vor Ort umzuwandeln.

Dabei scheint eines heute schon gesichert: Egal ob AWS oder Azure oder eines der anderen Cloud-Angebote – die Idee, die eigene Informationstechnik in die Cloud zu verlagern, ist ein weltweiter Trend, bis auch hier in zehn, zwanzig Jahren der nächste Gegentrend auf dem ewig oszillierenden Spielfeld der Infrastrukturdebatte zwischen Dezentralisierung und Rezentralisierung eintritt. Bis dahin können wir uns auf weitere Episoden zu Cloud Wars einstellen: Zum Beispiel „Die dunkle Bedrohung“ angesichts der zunehmenden Cybercrime-Angriffe. Aber dagegen hat Microsoft unter Charlie Bell jetzt eine eigene Großorganisation gegründet – wahrscheinlich unter dem Codenamen: „Die letzten Jedi“. – Das wärs.