211011 DSAG

Prohibitive Schnittstellenstrategie

Für die Mehrzahl der Anwenderunternehmen ist die Cloud inzwischen zum Maß aller Dinge geworden. Ihre CIOs fragen nicht mehr, „ob“ sie die eigene Informationstechnik in die Cloud verlagern sollen, sondern „wie“ sie die neue IT-Infrastruktur gestalten wollen. Eines zeichnet sich dabei ab: sie wollen mehrheitlich nicht einem Cloud Service Provider vertrauen, sondern die Vorzüge mehrerer Angebote in einer hybriden Cloud-Struktur aus mehreren Services nutzen. Und sie wollen nicht von einem einzigen Anbieter abhängig sein müssen.

Damit wiederholt sich nicht nur bei den globalen Konzernen, sondern auch im Mittelstand eine Grundeinstellung zur Diversität, die das Risiko der Abhängigkeiten auf mehrere Schultern verteilen will und gleichzeitig die Rosinen aus den verschiedenen Cloud-Kuchen picken möchte: hier besonders schnelle Datenbanken, da hohe Sicherheitsvorkehrungen und dort zusätzliche Services für künstliche Intelligenz oder das Internet der Dinge. Und nicht zuletzt wollen sie auch heterogene Anwendungswelten in der hybriden Cloud-Infrastruktur so miteinander verknüpfen, dass ihnen ein Wettbewerbsvorteil durch durchgängige Prozesse und Datentransparenz entsteht.

Doch genau das vermissen die Anwender inzwischen bei der SAP. Schon die Integration der eigenen Lösungen gelingt SAP nur unzureichend, lautete die Kritik zur Eröffnung der virtuellen Jahreskonferenz der Deutschen SAP Anwender-Gemeinschaft. DSAG-Vorsitzender Jens Hungershausen, selbst im Hauptberuf als CIO bei der Handwerker-Genossenschaft MEGA tätig, sieht denn auch deutlichen Handlungsbedarf. Nur wenig mehr als ein Viertel der von der DSAG befragten Anwenderunternehmen beurteilte die Integrationsmöglichkeiten der SAP-Lösungen mit gut. Aber 44 Prozent sahen die verfügbaren Schnittstellen als befriedigend. Und jeweils 14 Prozent – zusammen also ebenfalls mehr als ein Viertel, bewerteten die Integration als ausreichend oder gar mangelhaft. „Das Ergebnis sollte von SAP als weiterer, deutlicher Weckruf verstanden werden“, warnte Hungershausen.

Dabei erschallte der Weckruf schon vor Jahren – und die schwache Integrationsleistung hat bei SAP durchaus Tradition. Als SAP vor der Jahrtausendwende Wettbewerber zu Vertriebspartnern machte und vor allem mittelständischen deutschen Anbietern von Unternehmenslösungen das Angebot machte, neben der eigenen Lösung auch eine Vertriebsschiene für das damalige R/3 aufzubauen, da hofften Anwender wie Software-Unternehmer, durch eine bevorzugte Integration mit der SAP-Lösung werde das eigene, meist streng branchenorientiert ausgerichtete Software-Angebot aufgewertet. Doch daraus wurde nichts: zwar bot SAP an, gemeinsam mit den neuen Partnern Schnittstellen zwischen den Systemen zu entwickeln. Doch Aufwände in der Größenordnung von mehreren Tausend Personenjahren wirkten geradezu prohibitiv. Wer auf das Angebot einging, beschleunigte nur die eigene Selbstentleibung.

Das Vorgehen wiederholt sich zwei Jahrzehnte später in der Cloud. Denn zwar betonte SAP-Vorstandsvorsitzender Christian Klein jetzt auf dem DSAG-Event, dass „SAP liefert – bei Innovation und Integration“. Im Jahr 2021 seien 450 Schnittstellen bereits geschaffen worden oder stünden vor der Vollendung. Doch dabei handelt es sich einerseits vielfach um Trivial-Schnittstellen, die andererseits auch auf die Weiterentwicklung der aktuellen Komplettlösung S/4Hana [Sprich: Ess for Hana] fokussiert. Davon haben allerdings drei von vier SAP-Kunden nichts. Sie haben S/4Hana noch gar nicht im Einsatz. Und nur ein Fünftel der SAP-Anwender befindet sich gerade mitten im Einführungsprojekt. Der Rest plant einen Umstieg in der Zukunft oder weiß noch nicht so recht.

Vor allem aber hilft es jenen Anwendern nichts, die eine heterogene Anwendungswelt in einer ebenso heterogenen Cloud-Infrastruktur bevorzugen. Sie wollen beispielsweise Salesforce für das Kundenbeziehungsmanagement neben Microsoft 365 als Produktivlösung und zwei, drei Startup-Plattformen für die Neuausrichtung ihres eigenen Produkt-Ökosystems einsetzen. Sie tun sich schwer mit den hohen Integrationskosten, die SAP ihnen aufbürdet.

Das ist eine gefährliche Situation – für die Anwender ebenso wie für SAP selbst. Denn die Zeiten sind nun mal vorbei, in denen Unternehmen für ihre Geschäftsprozesse alles aus einer Hand wünschen. Die Software-Welt selbst ist wieder so heterogen geworden, wie sie vor der fürsorglichen Umarmung der mittelständischen Softwarehäuser durch SAP schon einmal war. Jetzt sind es nicht die branchenorientierten Unternehmenslösungen, sondern ganze Plattformen, die rund um Anwendungsbereiche wie das Automobil, den Online-Handel oder die Finanzdienstleistung entstehen. SAPs Schnittstellenstrategie wirkt wieder prohibitiv – könnte sich aber diesmal gegen Walldorf selbst richten.

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