Wie es um Corona-Deutschland steht, lässt sich derzeit besonders gut beim FC Bayern München beobachten. Cheftrainer Julian Nagelsmann musste vor Wochen trotz vollständiger Impfung in Quarantäne und konnte aus seiner voll digitalisierten, zum Studio umgebauten Küche dennoch mittelbar Einfluss auf das Spielgeschehen im Stadion nehmen. In der Vereinsführung zeigte man sich überrascht, dass der Trainer sich trotz Impfung mit dem Corona-Virus anstecken konnte. Zu lange hat sich die Mär in den Köpfen gehalten, dass diese Impfung vollständig schützt. Dabei senkt sie nur erstens die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung und mildert zweitens den Krankheitsverlauf.
Der Leistungsträger Joshua Kimmich hingegen musste ungeimpft und damit selbstverschuldet in Quarantäne und blieb deshalb dem Arbeitsplatz fern. Prompt verlor der FC Bayern gegen die abstiegsbedrohten „Gelbfüßler“ aus Augsburg. Sein Arbeitgeber erwägt nun, dem Impfverweigerer das Gehalt zu kürzen und ansonsten die Impfpflicht im Verein durchzusetzen. Der „Umsatzausfall“ in Form dreier verlorener Punkte ist jedoch ein irreparabler Schaden für das Unternehmen FC Bayern. Und Joshua Kimmich wird sich fragen lassen müssen, ob er sich beim nächsten harten Tackling auch erst Sorgen um mögliche Langzeitfolgen dieses Eingriffs machen wird.
Im Süden des Freistaats Bayern, dort wo das Misstrauen gegen „die da oben“ genauso ausgeprägt ist, wie im Süden des Freistaats Sachsen, haben die Impfverweigerer nun die Sieben-Tage-Inzidenz auf über 1000 ansteigen lassen. Dort, wo Querdenker und Reichsbürger in bedauernswert großer Zahl zu finden sind, riskiert man, dass ein ganzes Land in den Lockdown zurück muss, nur weil der eigene Irrglaube stärker wiegt als der gesunde Menschenverstand. Ähnlich egoistisch handeln diejenigen, die es einfach nicht auf die Reihe kriegen, zwei oder drei Impftermine einzuhalten und aus Chuzpe die gesamte Volkswirtschaft gefährden. Die alte Volksweisheit, „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“, ist längst um ein fatales Satzzeichen ergänzt worden: „Der brave Mann denkt an sich – selbst zuletzt!“
Der individuelle Eigensinn ist längst einem allgemein verbreiteten Egoismus gewichen, in dem sich große Bevölkerungsteile ihre Regeln neu schreiben und dem Grundsatz folgen, dass Regeln immer nur für die anderen gelten. Deshalb funktioniert vieles, das einmal als selbstverständlich gegolten hat, in unserer Gesellschaft nicht mehr. Das aber ist zugleich der direkte Weg in die allgemeine Impfpflicht, mit der mangelnden Einsicht durch die Einschränkung von Freiheiten überwunden werden muss. Jetzt muss durchgesetzt werden, was sich nun mal partout nicht in den Köpfen festsetzen will.
Da ist die Corona-Krise kein Einzelfall. Soeben wurden härtere Strafen für Verkehrsübertretungen beschlossen, weil die Verrohung auf den Straßen immer weiter zunimmt. Wo Autofahrer schon damit überfordert sind, ihre Fahrzeuge nicht auf Geh- und Radwegen oder vor Feuerwehrzufahrten abzustellen, da ist auch die gemeinschaftliche Bildung einer Rettungsgasse nicht mehr möglich. Und wenn Rettungskräfte doch am Einsatzort ankommen, dann werden sie auch noch durch Gaffer behindert, die noch schnell ein Selfie mit dem Unfallopfer schießen wollen.
Und nach dem Einsatz finden die Rettungskräfte immer seltener im nahegelegenen Krankenhaus das notwendige Intensivbett, weil diese – und damit schließt sich der Egomanen-Kreis – von Ungeimpften mit schwerem Corona-Verlauf belegt sind. Unter Pflegekräften macht sich inzwischen eine gefährliche Dialektik gegen eine berufsgruppenbezogene Impflicht breit: „Warum soll ich mich impfen lassen, wenn es meine Patienten auch nicht tun?“ In Sachsen liegt die Zahl der geimpften Pflegekräfte in Senioreneinrichtungen teilweise noch immer unter 50 Prozent! Man kann da nur im übertragenden Sinne antworten: „Wo bleibt deine Rettungsgasse, mein Freund?“
Es ist offensichtlich zu komplex für den minderbegabten Karnevalsjeck am 11. November, für den Partykracher an Wochenenden oder für den Weihnachtsmarktbesucher in der jetzt anlaufenden Adventszeit: In einer Zeit von Kontaktbeschränkungen – also im vergangenen Frühjahr – gab es nicht viel mehr, als daheim rumzusitzen. In diesem Herbst ist das Risiko, mit dem Virus in Kontakt zu kommen, viel höher – nicht trotz, sondern wegen der Impfungen. Denn sofern man geimpft war, glaubten alle, wäre auch das Risiko geringer. Entsprechend laxer waren bislang die Regeln.
Diesen komplexen Zusammenhang nicht stärker und vor allem konsequenter kommuniziert zu haben, ist den Politikern aller Parteien vorzuwerfen. Sie folgten und folgen ihrem eigenen Egoismus. Im Wahlkampfmodus sollten nicht die möglicherweise entscheidenden zwei Prozent Wählerstimmen riskiert werden. Nach dem Wahltag, in den noch immer anhaltenden Zeiten des Koalitionsgerangels, will man nicht riskieren, den womöglich entscheidenden Partner zur Mehrheitsbildung zu verlieren. Dabei ist eines sicher: wir werden nicht darum herumkommen, die Regeln neu zu schreiben. Die Impfpflicht wird kommen – und der nächste Lockdown wird nicht ausbleiben. Dann steuern wir alle wieder wie Nagelsmann das Spielgeschehen aus der Küche. Hoffentlich ist die dann auch voll digitalisiert.