Eine böse, böse Einmischung, zugegebenermaßen – aber die Verhältnisse, die sind halt so.
Wäre es nicht so zynisch, man müsste Wladimir Putin für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Und für einige andere Nobelpreise – für Wirtschaft und Chemie beispielsweise – auch. Denn er macht sich gerade für einige bahnbrechende Entwicklungen stark: die Einigung und Wiedererstarkung des Verteidigungsbündnisses im Nordatlantikpakt, für den beschleunigten Ausstieg aus fossilen Energieträgern, für eine globale humanitäre Hilfe gegenüber Flüchtlingen, für eine Zeitenwende, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es nannte, ja vielleicht sogar für das Ende der ungehemmten Globalisierung.
In der Tat: es wäre zynisch. Aber vor allem deshalb, weil es zurzeit keinen unbarmherzigeren Zyniker gibt auf dieser Welt als Wladimir Putin. Es gibt andere mit entsprechendem Potential – aber mit Ausnahme des chinesischen Präsidenten Xi keinen, der auch die Mittel für diesen angewandten Zynismus hätte, durch den dieser völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine überhaupt erst möglich wurde. Dieser Zynismus gipfelt in Bombardierung auf Zivilziele, in Schandtaten gegenüber der Bevölkerung, in der Zerstörung von Krankenhäusern, Geburtshäusern und Altersheimen. Dieser Zynismus wird auf dem Rücken einer unschuldigen Bevölkerung ausgetragen. Deshalb wäre es auch zynisch, Wladimir Putin für irgendwelche Auszeichnungen vorzuschlagen.
Denn es gibt kein Richtiges im Falschen, wie Theodor W. Adorno in seiner „Minima Moralia“ ausgerechnet über Asyl für Obdachlose und der allgemeinen Schwierigkeit resümierte, sich in modernen Zeiten irgendwo häuslich einrichten zu können. Adorno spekulierte darüber, ob der Mensch überhaupt noch in der Lage wäre, in einer richtigen Welt zu bestehen: „Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie“, fürchtete er 1947. Und in den 75 Jahren seither haben wir ihm genügend Anlass gegeben, dass diese Befürchtung substanziell ist.
Und dennoch: Putin hat schon jetzt die Welt gelehrt, das Wichtige vor dem Dringenden ins Auge zu fassen. Hunderttausenden von Managementberatern ist es bislang offensichtlich nicht gelungen, diesen Führungs- und Verhaltensgrundsatz – das „Eisenhower-Prinzip“ – in den Management-Köpfen zu implementieren: Eisenhower hat sozusagen das Vier-Quadranten-Prinzip, mit dem heute die Gartner Group Technologien einschätzt, vorweggenommen: Erledige sofort, was wichtig und dringend ist, dann das, was wichtig ist, dann erst das, was dringend, aber nicht wichtig, und vergiss, was weder wichtig, noch dringend ist.
Wichtig ist zum Beispiel Nachhaltigkeit und die Senkung des CO2-Ausstoßes. Aber bislang war uns das nicht dringend genug, obwohl der jüngste UN-Bericht uns warnt, dass sich das Window of Opportunity, in dem wir noch etwas an der globalen Erwärmung ändern können, allmählich schließt. Der Ausstieg aus den fossilen Energien ist zu teuer, hieß es stets. Jetzt zeigt sich, dass der Verbleib bei fossilen Brennstoffen wegen der Abhängigkeit von Russland uns noch teurer zu stehen kommt.
Auch die Ausrüstung und Aufrüstung der Bundeswehr war stets wichtig, aber irgendwie nie dringend. Jetzt ist sie beides und wird mit einem 100 Milliarden Euro großen Sonderprogramm und somit künftig mit mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts behoben. Und irgendwo sind diese Sonderausgaben auch ein Konjunkturprogramm, das die Wirtschaft in Krisenzeiten stärken kann. Schon jetzt positioniert sich der Mittelstand als Lieferant der ersten Wahl für Wehraufgaben: „Wir können liefern, wir wollen liefern. Der Mittelstand ist innovativ. Wir brauchen uns nicht zu verstecken, auch nicht in Bezug auf zukunftsfähige Systemlösungen, Künstliche Intelligenz oder Digitalisierungsanwendungen“, erklärt beispielsweise der Vorsitzende der BVMW-Kommission Bundeswehr und Mittelstand, Ferdinand Munk.
Folglich ist auch die Digitalisierung plötzlich und unerwartet eine mittelständische Kernkompetenz, von der sogar die Bundeswehr profitieren kann. Zwar war die digitale Transformation von Wirtschaft und Privatleben immer schon wichtig – nur, dringend war sie halt nie. Jetzt ist auch das anders. Nunmehr finden sich neue Wege der gemeinsamen Wertschöpfung auch über alternative Lieferketten hinweg. Da kommen hochindividualisierte Kabelbäume von jetzt auf gleich aus Nordafrika. Es geht doch, wenn man nur will.
Wieder mehr wollen wollen – dazu hat Wladimir Putin den Westen gezwungen. Wir sind endlich in der Eisenhower-Methode wach geworden. Dass dies mit dem unsagbaren Leid der Ukrainer bezahlt werden muss, ist an sich unfassbar und zynisch. Wir sollten diese Opfer ehren, indem wir unsere Lehren daraus ziehen. Und zwar dringend, denn das ist wichtig.