13 Millionen Bundesbürger waren zur Wahl in Nordrhein-Westfalen aufgerufen und die, die tatsächlich ihre Stimme abgegeben haben, haben eine noch nie dagewesene Vielfalt an Wimpel-Koalitionen ins Spiel gebracht: schwarzgrün, schwarzrot, schwarzgelbgrün, rotgelbgrün… Und alles ist irgendwie politisch möglich, weil sich die Kandidaten noch nie so wenig uneins gewesen sind. Selbst die beiden Spitzenkandidaten, Ministerpräsident Hendrik Wüst und Herausforderer Thomas Kutschaty, konnten sich nicht aufraffen, gegeneinander klare Kante zu zeigen. Ja, sie verwechselten sogar in einem Wahlcheck die Wahlkampfaussagen des jeweils anderen mit den eigenen.
Und trotz des unverändert tobenden Überfalls von Putin-Russland in der Ukraine, traten in dieser Landtagswahl endlich wieder die hierzulande drängenden Sachthemen in den Vordergrund: Bildung, Infrastruktur, Energiewende, Klimaschutz, Sicherheit, Wohnen und die digitale Transformation im Mittelstand. Ja, Mittelstand – denn nicht nur 10 der 40 im DAX vertretenen größten deutschen Konzerne haben ihren Sitz in NRW, sondern auch beinahe jedes vierte mittelständische Unternehmen in Deutschland. Und – für viele wahrscheinlich überraschend: – knapp ein Zehntel der Agrarfläche in Deutschland liegt hier. Genug Potenzial also, um endlich mal wieder Realpolitik zu diskutieren und – nach den Koalitionsverhandlungen – auch zu verwirklichen.
Und wie ein endlos gewundenes Band schlängelt sich durch jeden Politikbereich das Thema Digitalisierung. Handlungsfelder gibt es wahrlich genug – nicht nur in Nordrhein-Westfalen, aber hier ganz besonders: modernere Ausstattung der Schulen, Verbesserung von Forschung und Lehre an den Universitäten, berufliche Qualifizierung der Mitarbeiter, beschleunigte Genehmigungsverfahren beim Wohnungsbau, bei der Errichtung von Windrädern und nicht zuletzt bei der Firmengründung, Umstieg auf neue Energiequellen und zukunftsfähige Produktionstechnologien, Erneuerung und Ertüchtigung von Straßen, Brücken und Schienen, bezahlbares Wohnen, erhöhte innere Sicherheit und schließlich Kampf gegen Inflation und Rezession. Nichts davon geht ohne Digitalisierung. Und nichts davon geht, ohne dass der Mittelstand gefordert ist und zugleich gefördert werden muss.
Da ist noch viel zu tun. Denn der Großteil des deutschen Mittelstands ist gerade eben erst auf dem Sprung ins digitale Zeitalter. Das verlangt mehr als die Erstellung einer Webseite mit Bestellmöglichkeit, Online-Kommunikation in der Lieferkette oder das Aufstellen digitalisierter Fertigungsmaschinen. Im digitalen Zeitalter ändern sich Geschäftsmodelle grundlegend, werden Produkte durch digitale Services aus der Cloud angereichert und Lieferanten und Kunden unmittelbar in den Planungs- und Produktionsprozess eingebunden. Hierzu sollen jetzt nach und nach Transformationsagenturen in den Bundesländern installiert werden, die – ergänzend oder vielleicht doch eher in Konkurrenz zu den Industrie- und Handelskammern und kommunalen Digitalagenturen – dem Mittelstand auf die Sprünge helfen. Rheinland-Pfalz ist schon vorgeprescht, in Nordrhein-Westfalen sind sich die Parteien auch bei diesem Thema weitgehend einig.
Doch warum sollten halbstaatliche Agenturen schaffen, woran Hundertschaften von Unternehmensberatern bislang gescheitert sind? Die Vorstellung, dass verbeamtete oder angestellte Mitarbeiter für ein paar Stunden in den Betrieb gehen und dort für frischen Wind sorgen könnten, scheint doch eher abwegig. Wichtiger und zielführender wäre da schon eine Lotsenhilfe durch den Behördendschungel, um mittelständische Unternehmer schneller und zielsicherer an die Fördertöpfe zu dirigieren.
Für die digitalen Visionen hingegen sollte der Blick auf die erfolgreichen Mitbewerber, die „digitalen Vorreiter im Mittelstand“ helfen, wie eine gleichlautende Studie von Digital Mind im Auftrag der Deutschen Telekom zeigt. Die digitalen Vorreiter sind nicht nur gestärkt aus den jüngsten und noch andauernden Krisen hervorgegangen, sie erleben auch deutliche Umsatz- und Gewinnsteigerungen. Jedes zweite der untersuchten mittelständischen Unternehmen erfreut sich zweistelliger Wachstumsraten. Jeder dritte von ihnen verdiente Euro entstammt bereits einem Digitalprozess. Und drei von vier Unternehmen treiben smarte Lösungen in ihren Kerngeschäften voran, bei denen vernetzte Produkte und Services neue Wachstumsquellen erschließen.
Aber auch bei den digitalen Vorreitern gibt es erheblichen Nachholbedarf – zum Beispiel bei Projekten zur Nachhaltigkeit. 80 Prozent der Unternehmen haben das Thema auf ihrer Agenda, aber noch nicht umgesetzt. Maßnahmen der Digitalisierung zur CO2-Reduktion sind noch immer die Ausnahme. Denn 87 Prozent können bisher nicht ihren CO2-Abdruck messen. Auch deshalb will jedes dritte Unternehmen mehr als die Hälfte der Investitionen in die Digitalisierung stecken, dicht gefolgt von der Mitarbeiterqualifizierung. Der Mangel an qualifiziertem Personal und IT-Ressourcen ist unverändert groß. Aber auch ein noch nicht in allen Bereichen vollzogener Kulturwandel bremst die digitale Transformation, sagen die Studienautoren.
Es wird Zeit, dass wir in Politik und Wirtschaft aus dem ewigen Krisenmodus heraus und in einen andauernden Strukturwandel eintreten. Das gilt für Nordrhein-Westfalen ebenso wie für Deutschland und Europa. Es gilt aber in ganz besonderem Maße für den Mittelstand, der sich selbst – völlig zu Recht – als Träger und Rückgrat des politischen und gesellschaftlichen Gefüges sieht. Das gern benutzte Wort vom „Wiederaufbau“ ist wohl zu hoch gegriffen – Instandsetzen trifft es besser. Das haben Autobahnbrücken und mittelständische Betriebe gemeinsam.