Als vor vier Jahren die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) in Kraft trat, war die Verunsicherung darüber groß, was nun noch erlaubt sei und was nicht. Der Immobilienriese Wiener Wohnen zum Beispiel kündigte an, an Wiener Sozialwohnungen – in Österreich nennt man das Gemeindebau – die vorhandenen rund 200.000 Klingelschilder zur Wahrung der Privatsphäre der Bewohner abzumontieren. Zwar wurde diese Ankündigung später wieder zurückgenommen und die Schilder hängen bis heute, aber die Über-Reaktion zeigt doch deutlich die Ungewissheit darüber, wie nun genau die Privatsphäre zu schützen ist und was dabei verboten ist und was nicht. Nun, Klingelschilder sind kein „System“.
Es ist aber auch schwer zu verstehen, dass zwar einerseits personenbezogene Daten wie Vor- und Nachname für jedermann einsehbar an der Haustür prangen, und dass sogar ein Eintrag ins persistente Melderegister von Amts wegen zwingend vorgeschrieben ist, das Recht auf Anonymität im Internet aber ein offensichtlich höheres Gut darstellt. Und das offenbar nur deshalb, weil das Meldegesetz aus einer anderen, stärker obrigkeitsorientierten Zeit stammt.
Das gilt übrigens auch für das Auto. Aber während das Kfz-Kennzeichen am Auto einem Fahrzeughalter fest zugeordnet ist, der von jedem Polizeibeamten auch ohne Angabe von Gründen jederzeit ermittelt werden kann, ist die Internet-Adresse flüchtig und wird bei jedem Login vom Internet-Provider neu vergeben. Da diese Informationen aber nur kurzfristig gespeichert werden, gibt es hier keine Nutzerermittlung. Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, das eine spätere Identifikation des Nutzers erlauben würde, ist zwar verabschiedet, wird aber wegen Datenschutzbedenken aus dem Europäischen Gerichtshof nicht angewendet.
Jetzt hat Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul dieses Dilemma angesichts der an Kindern vollbrachten Gräueltaten noch einmal aufs Tapet gebracht. Im WDR hörte sich das so an: „Wenn mir eine Ermittlerin sagt: Herr Reul, ich habe jetzt diesen Typ mehrfach gesehen, wie er bei unterschiedlichen Kindern unterwegs war und ich komme nicht an seine wahre Adresse, das müssen Sie jetzt machen. Und sie wissen, das bekommen sie nicht hin, weil es das Recht nicht hergibt, dann sind sie verdammt unzufrieden mit sich selber.“ Datenschutz ist eben auch Täterschutz.
Es ist aber an der Zeit, noch einmal genau darüber nachzudenken, warum Anonymität im Internet tatsächlich ein so hohes Gut ist, dass es sogar über andere Rechtsgüter gestellt werden kann. Denn nochmal: Trotz der im Grundgesetz verankerten „Unverletzlichkeit der Wohnung“ gibt es Klingelschilder, Melderegister und – im begründeten Verdacht – Hausdurchsuchungen. Kein Auto fährt ohne Kfz-Kennzeichen durch den Verkehr, wodurch zumindest – wenn nicht der Fahrer – der Fahrzeughalter ermittelt werden kann. Macht er (oder sie) wechselnde Fahrer im Auto geltend, kann ein Fahrtenbuch angeordnet werden. Wer im Tante-Emma-Laden mit Namen angesprochen wird, fühlt sich wertgeschätzt; wer bei Amazon Einkaufsvorschläge nach seinen Gewohnheiten erhält, empfindet das als Dienstleistung. Aber wenn die im Internet unweigerlich hinterlassenen Spuren nicht innerhalb kürzester Zeit von den Providern gelöscht werden, gilt das als bedenklicher Verstoß gegen die Privatsphäre. Und in deren Schutz können dann sexuelle Gewalt und Hate Speech geschehen. Nicht immer, aber offensichtlich immer öfter.
Dabei ist der technische Grund, warum nicht jedem Nutzer – egal ob Mensch oder Maschine, Handy oder Server – ein festes Klingelschild in Form einer statischen, also über einen längeren Zeitraum vergebenen Adresse im sogenannten Internet-Protokoll zugewiesen werden kann, längst nicht mehr gegeben. Das Internet-Protokoll oder IP – nicht zu verwechseln mit dem anderen diffusen Datenschutzthema „Intellectual Property“ – verfügte in seiner Version 4 über einen Adressraum von 2 hoch 32 möglichen Zahlenkombination der Form 123Punkt456Punkt7Punkt89.
Weil das mit 4,3 Milliarden Adressen noch nicht einmal für die Weltbevölkerung ausgereicht hätte, geschweige denn für Maschinen, Sensoren und sonstige Teilnehmer im Internet der Dinge, mussten die Internet-Provider haushalten und jedem Nutzer eine dynamische Adresse aus ihrem zugewiesenen Adress-Vorrat zuweisen, die sich bei jeder Neuanmeldung im Internet ändern kann. Um diesen Mangel zu überwinden, wurde die Version 5 gleich übersprungen und mit der Version 6 ein Adressraum von 2 hoch 128 möglich gemacht. Das sind 340 Sextillionen Internet-Adressen, die ausreichen würden, jedem Sandkorn an unseren Stränden weltweit eine IP-Adresse zuzuweisen, wobei noch Adressraum für den Sand auf dem Mars übrig bliebe.
Damit wäre technisch der Weg zu einem Klingelschild für jeden Internet-Benutzer frei. Doch Datenschutz-Bedenkenträger nicht nur hierzulande bestehen darauf, auch weiterhin dynamische Adressen zu vergeben, um die Anonymität der Web-Surfer nicht zu gefährden. Es klingt wie die Durchsetzung eines Heizers auf E-Loks der britischen Eisenbahnen: Obwohl aus der Not des zu kleinen Adressraums geboren, beharren die Anonymiker dieser Welt weiterhin darauf, das Internet als rechtsbefreiten Raum zu erhalten – mit immer schlimmeren Folgen für die Gesellschaft.
Dabei wäre ein IP-Kennzeichen an jedem Endgerät gar kein so schlechter Kompromiss. Denn gegen die Vorratsdatenspeicherung lässt sich mit Fug und Recht einwenden, dass damit auch der „anlasslosen Datenspeicherung“ Tür und Tor geöffnet würde. Dann würden auch Verlaufsdaten, Email-Verkehr (wenn auch nicht dessen Inhalte) und Nutzungszeiten von der unbescholtenen Mehrheit der Bevölkerung archiviert. Wobei: Ist es nicht genau das, was die NSA so in Verruf gebracht hat, dass die damalige Kanzlerin ausrief: „Ausspionieren unter Freunden, das geht gar nicht!“? Technisch ist also alles möglich. Und viele wollen auch, selbst wenn sie nicht dürfen.
Warum übrigens werden in NRW überhaupt so viele (und so umfangreiche) Fälle von Kindesmissbrauch an den Tag gebracht? Doch wohl nicht etwa, weil es an Rhein und Ruhr besonders viele Pädophile gibt. Sondern, weil hier intensiver gesucht wird und das technisch Mögliche ausgeschöpft wird. Kann jemand angesichts der Gräueltaten etwas dagegen haben? Ist der Popanz „Privatsphäre“ das wert?
Jeder kann das Klingelschild am Internet-Anschluss abmontieren, indem er oder sie ganz einfach alle Anfragen nach Cookies rigoros ablehnt, die es privaten Anbietern erlauben, genau jene Verlaufsspuren im Internet zu verfolgen, an deren Erfassung wir die Verfassungsorgane hindern. Aber so lange Web-Surfer ihre persönlichen Daten auch als Währung begreifen, mit denen zusätzliche Services und Convenience im Internet möglich werden, solange bleibt der Persönlichkeitsschutz im Internet eine janusköpfige Missgestalt: Wir schützen einerseits mit juristischen Mitteln die Privatsphäre des Einzelnen und erlauben ihm gleichzeitig, das Ganze durch die freiwillige Weitergabe seiner Daten wieder auszuhebeln.
Cookies nerven! Das sagt inzwischen die Hälfte der von YouGov im Auftrag der zu United Internet gehörenden Anbieter Web.de und GMX befragten Internet-Nutzer. Das wiederum ist das Ergebnis der europaweit vor vier Jahren in Kraft gesetzten Datenschutz-Grundverordnung. Und Umfragen des Hightech-Verbands Bitkom unter Unternehmen belegen, dass das Datenschutz-Monster DS-GVO zwar in der Umsetzung viel Kraft gekostet habe, allerdings keinen Wettbewerbsvorteil im internationalen Geschäft gebracht habe. Die „europäische digitale Souveränität“ erzeugt mit Sicherheit Kosten, ob sie aber auch einen Gewinn bietet, kann inzwischen bezweifelt werden.
Denn sie stellt ebenfalls den Schutz der Privatsphäre über das Gemeinwohl. Das werden wir spätestens im kommenden Herbst zu spüren bekommen, wenn wir wieder in einen Corona-Lockdown treiben, ohne auf aussagekräftiges Datenmaterial zurückgreifen zu können. Hier ist das deutsche Dilemma doppelt: Wir können die Daten nicht nur nicht erfassen, wir dürften sie auch nicht speichern.
Dafür leisten wir uns auch hier den Luxus, dass Straftaten unter dem Schutz der Anonymität weitgehend folgenlos verübt werden – angefangen bei Hate Speech und Fake News, über Clan-Kriminalität und Terrorismus bis zu Mordaufrufen und Kinderpornografie. Daten speichern – Gewalt verhindern! Ohne Wenn und Aber.