230416 Maybrit Illner

630.000 Arbeitsplätze weggenommen!

Geradezu reflexartig wird beim Aufkommen einer neuen Technologie die Frage aufgeworfen, wie viele und welche Arbeitsplätze dem Menschen durch die neuen Maschinen weggenommen werden. Lange Zeit waren vom möglichen Abbau vor allem Arbeitsplätze für Ungelernte und Angelernte betroffen – also Menschen mit geringer Qualifikation. Mit den neuen KI-gestützten Sprachautomaten sind aber immer häufiger Anforderungsprofile betroffen, die von Absolventen eines Studiengangs und hochqualifiziertem Fachpersonal ausgefüllt werden könnten.

Wohlgemerkt könnten! Denn nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft waren allein im vergangenen Jahr rund 630.000 Arbeitsplätze unbesetzt – weil sich nicht einmal Bewerber für diese Stelle gefunden haben oder weil die mitgebrachten Qualifikationen für diese Position einfach nicht ausreichten. Besonders gesucht waren 2022 Expertinnen und Experten mit Hochschulabschluss in den Bereichen Informatik, Elektrotechnik, Bauplanung und -überwachung. Hier fehlten der Studie nach rechnerisch für neun von zehn offenen Stellen entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte.

Die Lage wird sich 2023 noch einmal deutlich verschärfen. Dann könnte es sein, dass für dringend benötigte Arbeitsplätze zum Beispiel im Bereich Digitalisierung, bei der Entwicklung neuer, kundenorientierter Anwendungen oder bei der Automatisierung in der Fertigung noch nicht einmal mehr Stellen ausgeschrieben werden, weil die Aussicht auf eine aussichtsreiche Bewerbung ohnehin allzu gering ist.

Konservativ gerechnet gehen der deutschen Wirtschaft durch die 2022 unbesetzt gebliebenen Arbeitsplätze mehr als drei Milliarden Euro flöten. Für einen mittelständischen Unternehmer muss es geradezu wie Hohn klingen, wenn jetzt angesichts der Leistungen, die KI-Systeme uns gegenüber tagtäglich vollbringen, wieder die alte Leier vom Arbeitsplatzverlust gegeigt wird. Viele mittelständische Unternehmen können sich nicht wie gewünscht weiterentwickeln, weil das Fachpersonal dafür fehlt und das vorhandene überlastet ist – zum Beispiel durch die Erledigung unnötiger Bürokratieaufgaben. Und auch die Genehmigungsverfahren in den Behörden vollziehen sich quälend langsam, weil auch dort das gleiche Dilemma gilt: fehlendes oder überlastetes Personal.

Es ist ja nicht die künstliche Intelligenz, die die Arbeitskräfte wegnimmt, sondern es sind die Manager, die sich entscheiden, eine seit einem Dreivierteljahr unbesetzte Stelle doch lieber durch Automatisierung zu ersetzen. Deshalb ist es auch wichtig, dass sich Befürworter und Gegner des Einsatzes von künstlicher Intelligenz nicht auf schwammig formulierte Möglichkeiten der Gefährdung oder des Nutzens zurückziehen, sondern mit konkreten und greifbaren Beispielen um die Ecke kommen, die einen mittelständischen Entscheider inspirieren und anspornen.

Dagegen herrscht bei der laufenden KI-Debatte stets der „Konjunktivus negativis“ vor: Es könnte passieren, dass ChatGPT halluziniert. Es könnte eines Tages soweit sein, dass dem Menschen die letzte Entscheidung genommen wird. Stattdessen wäre ein „Konjunktivus positivis“ wünschenswert: Durch die Übernahme langweiliger, sich wiederholender Tätigkeiten würden Ressourcen frei, die unmittelbar in Wettbewerbsvorteile umgemünzt werden können. Wer KI gegen überbordende Bürokratie einsetzt, könnten Genehmigungsverfahren beschleunigen. Wie sonst, wenn nicht durch KI-Systeme, könnten beispielsweise die 15 Aktenordner gefüllt werden, die es für die Genehmigung eines einzigen Windrades braucht.

Es war erstaunlicherweise die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die am vergangenen Donnerstag in der Runde bei Maybrit Illner diesen positiven Aspekt ins Spiel brachte, statt – wie von ihr zu erwarten gewesen wäre – das Reflexargument des Arbeitsplatzraubs anzustimmen. Ansonsten aber wurde die Chance verpasst, dem Publikum einmal zu erläutern, worin die ganz konkreten Nutzenaspekte einer KI in der Verwaltung oder in der Fertigung eines mittelständischen Unternehmens tatsächlich liegen. Dafür gab es immerhin den Hinweis, dass KI-gestützte Sprachprogramme auch Programmieren können und damit bei der Anwendungsentwicklung den bestehenden Arbeitskräftenotstand beheben. Allerdings geschah auch das nicht ohne die Warnung, KI-Systeme sollten sich aber nicht selbst programmieren dürfen.

Bitkom-Präsident Achim Berg machte immerhin den Versuch, die Debatte in Richtung Nutzungsmöglichkeiten und Wettbewerbsvorteile zu drängen und argumentierte klar, als er davor warnte, die Dominanz bei der KI-Forschung denen zu überlassen, die ein nicht-westliches Weltbild verfolgen und damit auch ihre KI-Systeme infizieren. Doch die wie üblich nur oberflächlich informierte Gastgeberin zog den Gesprächsfaden stets auf Yellowpress-Niveau herunter und hielt mit konkreten Fragen an Achim Berg leider hinter denselben. Es gibt Arbeitsplätze, da wünscht man sich geradezu die Übernahme durch künstliche Intelligenz.

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