230619 Digitalstrategie

Auf Sicht zwischen Krisen und Hürden

Man kennt das: Der Kunde A hat die letzte Lieferung storniert und dann aber gleich wieder neu beauftragt; die Engpassmaschine B sollte eigentlich dringend gewartet werden, aber der Produktionsausfall wäre nicht zu verantworten; im Einkauf gibt es Nachschubprobleme entlang der globalen Lieferkette C und eine Alternative wird dringend gesucht; die Personalchefin beklagt, dass die dringend benötigte Ingenieurstelle D immer noch nicht besetzt ist und man jetzt im Ausland suchen wolle; der Controller meldet, dass die Energiepreise eine völlig neue Kalkulation nötig machen – Version E in den letzten zwölf Monaten; sonst noch was? Ach ja, die Digitalstrategie! Das vertagen wir auf nächste Woche.

Zwei Drittel der mittelständischen deutschen Unternehmen haben eine visionäre Digitalstrategie nicht auf der Tagesordnung oder verschieben sie auf den Sankt-Nimmerleinstag. Nach einer aktuellen Befragung der Technischen Universität München (TUM), die zwar auf Unternehmen im Raum Heilbronn-Franken beschränkt war, aber nach Ansicht der Autoren in ihren Ergebnissen charakteristisch für den gesamten deutschen Mittelstand sein dürfte, plant auch die Hälfte der Unternehmerinnen und Unternehmer in der Zukunft nicht, eine Digitalstrategie zu formulieren. Der Grund: es fehlt schlicht an Ideen.

Je nach Erhebung variieren die Zahlen – doch im Prinzip bleibt es bei der Kernaussage, dass der Mittelstand in Sachen Digitalisierung weitestgehend auf Sicht navigiert. Die Mitarbeiter müssen im Lockdown zuhause bleiben? Da gibt es doch sowas wie Zoom oder Teams! Wir müssen Energie sparen? Dann lass uns neue Sensoren einbauen! Wir brauchen mehr Kunden im Ausland? Dann sollten wir unsere Webseite mehrsprachig auslegen! Es ist, als habe sich seit gefühlten 200 Bonnblogs nichts Grundlegendes geändert in Deutschland.

Der Bundesverband Mittelständische Wirtschaft geht denn auch angesichts der schlechten Zahlen aus dem Fortschrittsbarometer der TUM hart mit dem Mittelstand ins Gericht: Mancher Geschäftsführer müsse wohl als erstes in die Weiterbildung, heißt es in einem Kommentar zur Studie. Denn allzu oft fehle es am nötigen digitalen Fachwissen, um Chancen und Nutzen der Digitalisierung überhaupt erkennen zu können. Dagegen dominiert der Blick auf die Krisen und Einzelmaßnahmen zu ihrer Bewältigung. „Das Führungsverständnis muss sich an dieser Stelle deutlich weiterentwickeln“, urteilt Studienautor Christoph Geier, der als Direktor für Digitale Transformation an der TUM einen guten Einblick in den digitalen Bildungsstand der mittelständischen Manager hat.

Wichtigster Erfolgsfaktor digitaler Initiativen ist die Rückendeckung der Unternehmensleitung. Neun von zehn der befragten Unternehmen nannten diesen Punkt. Doch dieser Erkenntnis folgen keine Taten – jedenfalls nicht als Ergebnis einer strategischen Zukunftsplanung. Als Begründung für die lässige bis nachlässige Haltung zur Digitalisierung treten auch in diesem Fortschrittsbarometer, der immerhin eine Modellregion in Deutschland untersucht und nicht unbedingt das digitale Hinterland, die üblichen Verdächtigen auf: Als größte Hürden nannten die Firmen eine mangelhafte digitale Infrastruktur, fehlende Fachkräfte und zu viel Bürokratie.

Zugegeben – Infrastrukturdefizite, Fachkräftemangel und überbordende Bürokratie kann der Mittelstand nicht aus sich heraus abschaffen. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung von Politik und Wirtschaft. Aber hinter diesen Hindernissen versteckt sich der Mittelstand traditionell ganz gern. So wird weiter auf Sicht navigiert und zwischen Krisen und Hürden laviert. Es mag absurd klingen, aber die mangelnde digitale Ausrichtung vieler Unternehmen führt beschleunigt in die De-Industrialisierung. Ohne Zukunftsperspektive geht nach und nach die Wettbewerbsstärke verloren. Die Produktion wandert ab und das Knowhow gleich mit. In zu vielen Branchen haben wir das bereits beobachten können – von der Pharma-Industrie bis zur Solar-Branche. Wir brauchen mehr Visionäre in den Führungsriegen, die eine Zukunftsperspektive entwickeln und dann ihre Belegschaft mitnehmen. Denn wenn man das Ziel nicht kennt, ist jeder Weg falsch.

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