Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her – diesmal in Gestalt von Microsoft-CEO Satya Nadella, der anlässlich seines Berlin-Besuchs ein erstaunlich positives Bild vom deutschen Mittelstand zeichnete. Das Publikum bei der Verleihung des Axel Springer Awards an den charismatischen „Microsofty“ war jedenfalls überrascht, als sie das Loblied auf die Innovationsfähigkeit mittelständischer Unternehmen hörten: „Der deutsche Mittelstand wird der größte Profiteur von KI“, sagte er. Ein Grund seien die gut ausgebildeten Fachkräfte hierzulande.
Diese Erwartung schöpft Satya Nadella aus seinen letzten Zahnarztbesuchen in den USA: Dort finde er ausschließlich Apparate und Medizingeräte aus deutscher Fertigung vor, erklärte er in einem Gespräch mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Die könnten aufgrund der Fülle an Daten, die sie produzieren, auch „erstklassige digitale Produkte“ sein. Dasselbe gelte für den gesamten deutschen Maschinen- und Anlagenbau. Sprachassistenten wie ChatGPT oder die in den Microsoft-Lösungen integrierten Copiloten sind seiner Ansicht nach eine hervorragende Basis für den Mittelstand, mit eigenen Datenmodellen neue digitale Produkte zu kreieren.
Allerdings könnte dazu die inzwischen sprichwörtliche Deutschlandgeschwindigkeit nicht ausreichen. Erst 15 Prozent der mittelständischen Unternehmen haben ein Jahr nach der Veröffentlichung von ChatGPT eigene KI-Initiativen gegründet, hat der Bitkom ermittelt. Das wäre vor zwei Jahren noch beeindruckend gewesen – heute aber ist das eindeutig zu langsam. „Wenn man wartet, bis sich die rechtlichen Rahmenbedingungen geklärt haben, bevor man etwas einführt, wird es angesichts der Chancen, die man hat, zu spät sein“, warnte Nadella im Gespräch mit Wirtschaftsvertretern.
Ob diese Beschleunigung auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Sinn hat, lässt sich aus dem jetzt vorgelegten Strategiepapier seines Ministeriums unter dem Titel „Industriepolitik in der Zeitenwende“ nicht unbedingt herauslesen. Die drei darin priorisierten Ziele „Industriestandort sichern, Wohlstand erneuern, Wirtschaftssicherheit stärken“ benennen nur indirekt das übergeordnete Ziel der Stärkung im internationalen Wettbewerb. Beim Thema KI geht es dem Papier zufolge lediglich darum „den Anschluss halten“ zu können. Das allerdings ist zugegebenermaßen schon ambitioniert genug.
Dabei ist die Einsicht durchaus angekommen, dass sich der Einsatznutzen von KI nur dann vollständig ausschöpfen lässt, wenn die entsprechende Datenbasis gut aufbereitet vorliegt. Deshalb unterstützt das Bundeswirtschaftsministerium in einem Leuchtturmprojekt unter dem Namen „Catena-X“ die Automobilindustrie und deren meist mittelständische Zulieferer. Dort wird ein globaler Datenraum mit durchgängiger Datenkette entlang der gesamten automobilen Wertschöpfung geschaffen. „Die starke Beteiligung der Automobilindustrie zeigt: Die Unternehmen brauchen skalierbare digitale Ökosysteme, um für zentrale Themen Lösungen zu bekommen“, heißt es in dem Strategiepapier.
Kernprojekt für die vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte digitale Transformation der Industrie ist Manufacturing-X, das auf den Erfahrungen von Catena-X aufsetzt und auf die umfassende Digitalisierung aller industriellen Lieferketten zielt. Dabei soll der gesamte Lebenszyklus von Produkten und Produktionsmitteln – von der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling – erfasst werden. Klingt gut, ist aber möglicherweise zu langwierig und zeitaufwendig, um in der Deutschlandgeschwindigkeit auf internationales Niveau zu gelangen.
Doch sollte das nicht daran hindern, das Richtige zu tun. Einerseits haben mittelständische Unternehmen derzeit die einmalige Chance, schnell und in überschaubaren Größenordnungen mit den verfügbaren Sprachassistenten eigene digitale Produkte und Dienstleistungen zu schaffen. Andererseits dient die Bundesinitiative auch der breiten Verfügbarkeit von verlässlichen Daten. Denn „aufbauend auf umfassenden Datenquellen mit eigenen Daten und Daten Dritter, wird auch das volle Potenzial von KI-Lösungen als Schlüsseltechnologie sichtbar“, wissen die Autoren des Strategiepapiers.
Dabei gibt das Ministerium ein Versprechen ab, das wie eine Replik auf Satya Nadellas Besuch in Berlin klingt: „Wir setzen uns dabei für eine innovationsfreundliche Ausgestaltung der regulatorischen Rahmenbedingungen für KI in Europa ein, um Potenziale der KI zu nutzen und Investitionen in KI zu fördern.“ Und weiter heißt es: Vertrauenswürdige KI kann so ein Markenzeichen für Europa, ein internationales Vorbild und ein Wettbewerbsvorteil für die Industrie werden.“ Es würde erst einmal reichen, wenn der deutsche Mittelstand, wie von Satya Nadella prognostiziert, tatsächlich vom KI-Einsatz überdurchschnittlich profitiert. „Schaun mer mal, dann sehn mer scho.“