Was geschieht in Berlin, wenn in Indien ein Sack Reis umfällt?

„Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, haben wir 68 gereimt. Heute bin ich beinahe 68 und gehöre gewiss zum Establishment – also laut Definition zu einer wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich einflussreichen Milieugruppierung. Dazuzugehören ist kein Einzelschicksal, sondern der Lauf der Dinge. Als Kölner sagt man dazu auch „jeder hätt sin Schmölzchen“.

Etabliert zu sein, ist durchaus ein erstrebenswertes Ziel, das allerdings die nicht geringe Gefahr birgt, vor lauter Arriviertheit nachher nicht mehr innovativ zu sein, oder gar repräsentativ. Insofern hat sich seit 68 nicht viel geändert – Establishment ist von innen betrachtet angenehm, von außen eher unbequem. Und dann auch schnell obsolet.

Verbände und Vereine – vor allem aber Interessensverbände, vulgo: Lobbys – stehen in der Gefahr, im Etabliertsein zu erstarren und dadurch die eigene Gründungsidee ad absurdum zu führen. Dies bekam in der vergangenen Woche die vermeintlich junge IT-Industrie in Indien zu spüren, als sich im dortigen IT-Verband, der National Association of Software and Services Companies (Nasscom) so etwas wie eine Palastrevolution ereignete. Als Teilnehmer der Nasscom-Jahreskonferenz und des „Indian Leadership Forums 2013“ war ich Augen- und Ohrenzeuge, wie sich auf den Gängen im Kongresszentrum in Mumbai der Shitstorm gegen das Establishment formierte.

Indiens IT-Industrie steht heute für 100 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz. In zwölf Jahren soll sich diese Zahl auf 225 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt haben. Die Frage, die hier auf den Gängen in Mumbai diskutiert wurde, ist schlicht die: Ist eine Organisation wie ein Anbieterverband mit seiner hierarchischen Entscheidungsstruktur überhaupt noch relevant für eine agile Industrie, die aus Abertausenden von kleinen und mittelständischen Unternehmen gespeist wird? Die jungen Start-ups engagieren sich in Weblösungen, die eher Graswurzelbewegungen beflügeln, suchen schnell internationalen Erfolg und pflegen mindestens so gute Kontakte ins Silicon Valley wie das Nasscom-Establishment.

30 dieser agilen Mitglieder haben sich jetzt in einer Alternativorganisation iSprit – Indian Software Product Industry Round Table – zusammengeschlossen. Sie bemängeln, dass Software-Produkte und Beratungsleistungen rund um Business Process Optimization zu kurz kommen. Der Nasscom, so klagen sie, wird weiterhin dominiert von den großen, auf Body-Leasing spezialisierten IT-Services-Companies. Der Schub aber zu einem 225-Milliarden-Dollar-Markt werde nicht durch die etablierten, sondern durch die agilen Companies geschaffen.

Zusätzlich wird der Nasscom durch – sagen wir mal: vordemokratische – Besonderheiten geprägt. Abgestimmt wird nach Umsatz-Gewichtung – also sozusagen in einem Dreiklassenwahlrecht. Und: Ausscheidende Präsidenten sitzen in einem Altvorderen-Beirat, über den sie erhebliches Beharrungsvermögen gegenüber dynamischen Entwicklungen zeitigen. Beides, so hat jetzt eine Kommission vorgeschlagen, gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.

Im Bitkom, dem deutschen Pendant als IT-Interessensverband, hat jedes Mitglied unabhängig von seiner Größe eine Stimme. Dies mag die Global Player von Zeit zu Zeit frustrieren, weil sie sich einer Stimmenmehrheit gegenübersehen, die jedoch nicht zugleich die Umsatzmehrheit darstellt. Tatsächlich sichert dies aber, dass dynamische, agile Bewegungen von Start-ups schnell Gehör finden können. Damit ist das Bitkom-Präsidium stets gehalten, seine Politik an neuen Entwicklungen zu orientieren. Tut es das nicht, kann die agile Mittelstandsmehrheit seine Repräsentanten abstrafen.

Aber reicht das in einer sich immer mehr zu einer Graswurzel-Branche entwickelnden IT-Industrie? Nicht nur werden die Großen größer, die Kleinen werden auch immer mehr – und agiler. Vielleicht interessiert es in Berlin doch, wenn in Indien ein alter Sack Reis umfällt.

Er war noch niemals im Silicon Valley

Zwischen Deutschland und Kalifornien liegen neun Stunden Zeitunterschied. Zwischen Deutschland und dem Silicon Valley sind es noch einmal 18 Monate mehr – die Zeit, die nach Moores Gesetz verstreicht, um mit der jeweils nächsten Chipgeneration die Computerleistung zu verdoppeln. Diesen Zeitsprung konnte ich jetzt als einer von vier deutschen IT-Experten in Begleitung des Bundeswirtschaftsministers Philipp Rösler absolvieren.

Es war gewiss nicht meine erste Reise in das Tal der aus Silizium gewonnenen Ideen – aber es war die erste Reise eines deutschen Bundeswirtschaftsministers in die Brutstätte des IT-Zeitalters. Und das, nachdem das Tal, das weltweit führende Computerkonzerne und jährlich eine Vielzahl von Neugründungen hervorbringt, bereits mehr als 60 Jahre internationale Erfolgsgeschichte schreibt. 20 deutsche Wirtschaftsminister haben das Epizentrum der Computerrevolution prominent ignoriert.

Allein zum Staunen hatten sich Philipp Rösler und seine Delegation nicht im kleinen Luftwaffen-Airbus 319 auf den 24-Stunden-Tripp nach San Francisco, Palo Alto, Cupertino und Mountain View begeben. Vielmehr ging es dem Wirtschaftsminister darum, Deutschland näher an den Ideen-Inkubator heranzubringen. Deshalb beteiligt sich die Bundesregierung am Aufbau des German Silicon Valley Accelerators, einem Wachstumslabor, das jährlich 16 Startups aus Deutschland nach Kalifornien bringen soll, um „Investoren zu finden und dort Fuß zu fassen.“

Aber wichtiger noch ist, dass es endlich gelingt, die Business-Stimmung aus dem Valley nach Good-Old-Germany zu bringen. Deshalb wirbt der Bundesminister auch an der Stanford-University für den Standort Deutschland und die Gründerszene hierzulande. Immerhin 9000 Startups gibt’s pro Jahr in Deutschland – und 16 davon schicken wir künftig pro Jahr mit Hilfe des Accelerators ins Silicon Valley. Das sind nicht einmal zwei Promille! Na, wenn das mal kein Wettbewerbsdruck ist.

Aber wir haben ja zum Trost die SAP, jenes deutsche, nein europäische Vorzeigeunternehmen, das als einziges in die Königsklasse der IT-Adepten aufgestiegen ist. Und auch im SAP-Lab machte Philipp Rösler mit seiner Delegation Halt, um – wieder einmal – die Vorzüge der Inmemory-Datenbank Hana und die inzwischen radikal umgebauten Cloud-Strategien der Walldorfer zu hören. Es ist doch irgendwie bezeichnend, dass darin die OnDemand-Entwicklungen aus deutscher Feder ad Acta gelegt werden, während die Riege des aus dem Silicon Valley zugekauften Unternehmens Success Factor um Lars Dalgaard die künftige Marschroute bestimmt.

Aber es gibt keinen Grund, im Silicon Valley in Sack und Asche zu gehen. Wir haben ja den Maschinenbau und den Automobilbau, um den sich mit „Industrie 4.0“ die deutsche ITK-Wirtschaft der Zukunft ranken wird. In der Tat wäre es aberwitzig, hierzulande in einen weiteren SmartPhone-Produzenten zu investieren oder ein Start-up mit der nächsten Suchmaschine zu gründen. (Es sei denn, wir machten das mit Hana…) Ein deutsches Apple, also zum Beispiel ein baden-württembergisches Äpple, wird seine Geschäftsidee nicht aus Nachahmerprodukten generieren, sondern aus der konsequenten Weiterentwicklung deutscher Ingenieurkunst. Das ist das Mantra der Röslerschen Wirtschaftsförderung: Deutschland, derzeit noch auf Platz sechs der weltweiten IT-Rangliste, soll bis zum Ende des Jahrzehnts „auf dem Treppchen stehen“ – mindestens Platz drei also!

Was passierte sonst noch während des Kurztripp? Ach ja, Papst Benedikt schwinden die Kräfte. Am 28. Februar hat Deutschland ein weiteres internationales Schwergewicht verloren. War der Papst eigentlich schon im Silicon Valley?

Zink plus Vitamin C

Wer im Biologieunterricht aufgepasst (oder später die Gesundheitstipps in den Illustrierten verfolgt) hat, weiß, dass Zink wichtig fürs Wachstum ist. An rund 300 Stoffwechselfunktionen ist das Spurenelement beteiligt.

 Zink hat in Deutschland einen Namen – einen Familiennamen: Grillo. Es ist eines der Vorzeigeunternehmen des deutschen Mittelstands, familiengeführt, traditionsbewusst, sozial engagiert und dabei innovativ und wachstumsorientiert. Dass mit Ulrich Grillo jetzt wieder ein Vertreter eines Familienunternehmens den Bundesverband der Deutschen Industrie als Präsident anführt (wie zuvor bereits Jürgen Thumann), ist ein gutes Signal für die mittelständisch geprägte Unternehmerschaft. Wobei hiermit ausdrücklich kein nachträgliches Misstrauensvotum gegen den ehemaligen Hochtief-Vorstandsvorsitzenden Hans-Peter Keitel, der das Amt des BDI-Präsidenten seit 2008 innehatte, ausgesprochen sein soll.

 Hans-Peter Keitel, der nicht noch einmal für eine weitere Amtszeit kandidieren wollte, übergibt das Präsidentenamt nicht nur in einem Bundestagswahljahr an seinen 53jährigen Nachfolger, sondern auch in einer Zeit der großen, bevorstehenden Paradigmenwechsel. Die Energiewende beispielsweise ist beschlossene Sache – aber umgesetzt ist sie nicht einmal in Ansätzen. Die Haushaltskonsolidierung ist eine in Angriff genommene Aufgabe – aber die Anstrengungen bleiben im Dschungel von Euro-Rettung und Schuldenkrise stecken.

 Dabei setzt Ulrich Grillo bei seinen Antrittsbesuchen – auch innerhalb der 38 zum BDI zusammengefassten Branchenverbänden – richtige Stichworte, wenn er das schöne Wort von der „Zukunft der Industrie“ und der „Industrie der Zukunft“ verwendet. Längst haben wir für den Werte- und Wirkungswandel in der Industrie das Anhängsel „4.0“ gefunden, als handele es sich um ein irgendwie zusammengefasstes neues Release eines bewährten Produkts. Aber „Industrie 4.0“ ereignet sich nicht irgendwann zu einem Stichtag mit Update-Funktion auf Knopfdruck, sondern entwickelt sich allmählich. Von innen heraus, nicht von oben herab.

 Von innen heraus – das bedeutet zum Beispiel eine aus der Mischung aus Innovationskraft und Beharrungsvermögen heraus entstehende „zerstörerische Kreativität“, die – es wurde mal wieder langsam Zeit, das in Erinnerung zu rufen – den Mittelstand im Schumpeterschen Sinne auszeichnet. Dieser Mechanismus braucht keine Effizienzrichtlinie der EU „von oben herab“, um Energiesparmaßnahmen einzuleiten. Da reicht, so sagte es Ulrich Grillo der FAZ, schon die gesunde Gewinnorientierung der Unternehmen.

 „Industrie 4.0“ wird sich in vielen Einzelschritten ereignen. Der neue Präsident hat dabei zu erkennen gegeben, wie sehr ihm bewusst ist, dass der Informationswirtschaft hier eine ganz entscheidende Rolle als Enabler und Querschnittstechnologie zukommt. Mehr Prozessorientierung, mehr Effizienzstreben, mehr Nachhaltigkeit und weiterhin hohe Innovationskraft bilden das Antriebssystem dorthin. Sie sind das Gerüst der Sozialen Marktwirtschaft, das mit Ulrich Grillo einen eloquenten, einen vertrauten und einen vertrauenswürdigen Repräsentanten hat.

 Informationstechnik und Telekommunikation sind sozusagen „Zink plus Vitamin C“, das den Stoffwechselprozess in der Industrie befördert. Und wenn – wie beim werbewirksamen Nebenprodukt „Grillo-fit“ – Zink mit Vitamin C gereicht wird, steht eine gesunde Wirtschaft ins Haus.

Da wo´s was zu tun gibt

Es hat noch nie so viel Spaß gemacht auf dem World Economic Forum in Davos. Die Stimmung ist so euphorisch, als hätte es nie eine Krise gegeben. Oder besser noch: als wäre die Krise längst Vergangenheit und eine neue nicht in Sicht.

Die Helden werden gefeiert – allen voran die beiden „Super-Marios“, Mario Draghi und Mario Monti, die – so will es fast scheinen – nahezu im Alleingang die Schulden- und Eurokrise niedergerungen haben. Andere feiern sich selbst – wie zum Beispiel Philip Rösler, der mit der „Power of Ten Percent“ Hof hält. Oder wie Bill McDermott, der Co-CEO der SAP, der der deutschen Ausgabe des Wall Street Journals die magische Zahl von 22 Milliarden Euro Umsatz nennt. So viel sollen 2015 in die Kassen des Walldorfer Softwareriesen fließen. Dank Hana und der rejustierten Cloud-Strategie wachse SAP derzeit doppelt so schnell wie Erzrivale Oracle. Und viermal so schnell wie die ganze IT-Branche in Europa.

Das aber soll sich ändern. Zu diesem Zweck hat die für „digitale Fragen“ zuständige EU-Kommissarin Neelie Kroes das Davoser Gipfeltreffen zur Ankündigung einer europäischen Initiative zur Stärkung der IT-Industrie in Europa genutzt. Mehr digitale Arbeitsplätze, mehr IT-Kompetenz und nicht zuletzt mehr Gründer-Geist soll die Informationswirtschaft auf dem Alten Kontinent schneller voranbringen. Im Idealfall soll Europas IT-Sektor wieder im Gleichschritt wachsen mit SAP – aber das sagt Neelie Kroes natürlich so nicht.

Dabei können sich auch die jetzigen Zuwachsraten durchaus sehen lassen: Um jährlich drei Prozent nahm die Zahl der digitalen Arbeitsplätze in Europa zu – auch während der Krise. Aber deutlich schneller wachsen als bisher dürfte die „EU-IT“ schon allein, wenn das brachliegende Potential genutzt würde. Nach Angaben der EU-Kommissarin bleiben derzeit bis zu 700.000 Arbeitsplätze in der Informationswirtschaft und Telekommunikation unbesetzt. Berücksichtigt man allein durchschnittliche Umsatzerlöse pro Arbeitsplatz, würde dies einer Wertschöpfung von 100 Milliarden Euro entsprechen.

Allerdings besteht weder kurz- noch mittelfristig eine Aussicht darauf, diese Arbeitsplatzlücken auszufüllen.  Im Gegenteil: Die Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung in digitalen Berufen anstreben, ist sogar rückläufig. Wenn nichts geschieht, bewegt sich Europa von seinen Chancen weg.

Deshalb will Neelie Kroes auf allen Ebenen zusammen mit Industrie und Bildungseinrichtungen aktiv werden: mehr Ausbildungsplätze, mehr Praktika, mehr Informatikkurse, mehr berufsbegleitende Weiterbildung, mehr Online-Hochschulkurse, mehr Mobilität und nicht zuletzt mehr Unterstützung für Firmengründer. Als Währung für mehr Bildung und Initiative sieht die EU-Kommissarin Bildungschecks wie sie in Deutschland und vor allem in Spanien schon erfolgreich eingeführt wurden. Rund 20000 Teilnehmer hatten sich mit Hilfe solcher Bildungsgutscheine weiter qualifiziert – und für zwei Drittel von Ihnen sprang am Ende sogar ein Arbeitsplatz heraus.

Dieser Coupon-Coup soll jetzt europaweit lanciert werden. Weitere Ideen und vor allem konkrete Handlungsvorschläge sind willkommen. Darüber soll parallel zur CeBIT in Hannover am 4. und 5. März diskutiert werden. Mitmachen kann jeder. Und angesichts eines kurzfristigen Bedarfs von 700.000 Arbeitsplätzen muss auch jeder mitmachen.

Es gibt was zu tun – nicht nur in Davos, sondern da wo´s klemmt.