Survival of the Fittest

Die Fitness-Welle, die seit den „Trimm-Dich“-Spielen der goldigen Siebziger Jahre so manchen merkwürdigen Zeitvertreib von Aerobic über Zumba bis Piloxing hervorgerufen hat, verspricht ihren schuftenden, schwitzenden Anbetern körperliche Schönheit und dadurch Lebensverlängerung. Und wer verspicht, andere „fit für die Zukunft“ zu machen, der lässt Bilder von einem agilen Geist in schönen Körpern entstehen. Wer wollte das nicht wollen? Tatsächlich aber dachte der Sozialphilosoph Herbert Spencer, auf den der später durch Charles Darwin berühmt gewordene Begriff vom „Survival of the Fittest“ zurückgeht, gar nicht an Stärke oder Agilität, sondern an eine größtmögliche Anpassung an die äußeren Umstände. „Fit“ ist nicht der Stärkere, so erkannten beide bei der Beobachtung der Evolution, sondern der, der sich auf seine Lebensumstände am besten einzustellen versteht. Das Dasein mag so armselig sein wie das einer Amöbe – aber es zahlt sich aus…

Dass sich diese Erkenntnis auch auf das Wirtschaftsleben ausdehnen lässt, hat schon seit jeher die Beratungsbranche belebt, die besondere Fitness-Trainings fürs Manager und Trendscouts im Angebot hat. Dabei geht es immer weniger um den „Kampf ums Dasein“, sondern vielmehr um den Kampf ums Dableiben. Gründen ist leicht im Vergleich zum Überleben! Das beweist bereits ein Blick auf die Fortune500-Liste, den das American Enterprise Institute veröffentlich hat. Danach waren nur noch 61 Unternehmen, die die Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen vor 60 Jahren aufgeführt hatte, auch 2015 noch dabei – darunter Konzerne, die zahllose Häutungen hinter sich haben wie IBM und General Electric.

Mehr noch: Auf der Basis von Unternehmensdaten aus über 100 Jahren hatte das Marktbeobachtungsunternehmen Innosight schon zuvor die 500 im Standard & Poor´s Index aufgeführten Konzerne untersucht und erstaunliches zu Tage gefördert: Vor 60 Jahren hatten die Unternehmen eine Lebenserwartung von durchschnittlich 60 Jahren, das heißt: über diesen Zeitraum waren sie im S&P-Index aufgelistet. 1980 war die Lebenserwartung schon auf 20 Jahre zurückgegangen. Heute liegt sie durchschnittlich bei zwölf Jahren.

Die Firmen waren ausgelöscht, übernommen worden oder geschrumpft, weil sie sich den neuen Lebensumständen nicht länger anpassen konnten. Sie waren eben nicht „fit für die Zukunft“. Und dabei verlangt die Firmen-Fitness immer häufiger und immer konsequenter nach Neuausrichtung. Die disruptive Kraft der neuen Technologien, die nach der Massenproduktion erst eine Consumer-Orientierung und heute eine Consumer-Zentrierung verlangen, die auf „Losgrößen 1“, volldigitalisierte Geschäftsprozesse und agile Geschäftsmodelle hinausläuft, nimmt an Macht immer weiter zu. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo Vernetzung und Digitalisierung „altem Eisen“ neues Leben einflößt: im Automobil- und Maschinenbau, im Einzelhandel, im Gesundheitswesen zum Beispiel. Und hier zeigt sich ein Clash of Cultures zwischen Neureichen und „altem Geld“. Siemens, Bosch, Daimler, BMW und Co. bemühen sich darum, die neuen Herausforderungen durch die alten Strukturen zu leiten, während Google, Facebook und Amazon Zug um Zug neue Betätigungsfelder für sich erobern. Wer dort der Fitteste ist, wird sich nicht an der Größe entscheiden, sondern an der Fähigkeit zur Anpassung.

Das ist die gute Nachricht für den deutschen Mittelstand. Ihm fehlt es zwar durchaus an Größe im Vergleich zu den Elektro- und Internet-Giganten. Aber seine Anpassungsfähigkeit ist legendär. Der Mittelstand sollte daraus sein Fitness-Programm für die Zukunft zusammenstellen.

 

 

Watson! Watt sonst?

Kommt eine Grundschullehrerin zu Watson und will fragen…, kommt aber nicht dazu, weil IBMs künstlicher Intelligenzler ständig seine Vorzüge vorstellen muss. Schließlich unterbricht sie ihn (also eigentlich „es“ statt „ihn“, so weit wollen wir es mit der Vermenschlichung für AI-Computer nun doch noch nicht treiben) mit einer herrischen Geste und platzt heraus. „Was muss ich tun, damit die Kinder auch mal still sind?“ – Watson schweigt lange und antwortet schließlich: „Zu dieser Frage ist mir keine Lösung bekannt.“

Dies ist einer von vielen Werbespots, mit denen IBM ihren zentralen Hoffnungsträger, das Expertensystem Watson, der Menschheit näher bringen möchte. Cognitive Computing nennt IBM selbst das System, das in der Lage ist, aus unstrukturierten Daten empirisches Wissen zu ziehen und damit Handlungsempfehlungen auszusprechen. Und das ist ein riesiges Arbeitsfeld. Denn trotz der alles speichernden und sammelnden ERP-Systeme in Unternehmen, mit denen die Firmenressourcen verwaltet und verplant und damit praktisch jedes Firmengeschehen gesteuert wird, sind es nach Schätzungen von IT-Wissenschaftlern lediglich acht Prozent aller in einer Organisation vorhandenen Daten und Informationen, die in strukturierter Form vorliegen. Alle anderen Daten entziehen sich als Wort oder Bild den Auswertungsmöglichkeiten von klassischen Datenbanksystemen.

Noch. Denn Watson soll nach den Vorstellungen der IBM in all diese Gebiete vordringen und dabei die Möglichkeiten einer In-Memory Datenbank, dem derzeit hellsten Stern am Big-Data-Firmament, hinter sich lassen.

Doch es ist ein weiter Weg bis zum kommerziellen Erfolg, den IBM nach so vielen Quartalen mit Umsatzrückgang und Verlusten so dringend benötigt. Vor gut einer Dekade begannen IBMs erste Versuche im Gesundheitswesen, die inzwischen – nach jahrelangem Input von Anamnesedaten und Diagnosen und der kontinuierlichen Verbesserung der Denkleistung von Watson und seiner Vorgänger – zu nennenswerten Ergebnissen bei der Identifikation seltener Krankheitsbilder führen.

Neben vornehmlich humanen Projekten im Gesundheitswesen gibt es inzwischen auch handfeste monetär orientierte Kunden. Zum Beispiel Talkspace, das mit CaféWell eine Online-Plattform für die wachsende Zahl der Selbstoptimierer bereithält. Wer Ratschläge und Trainingstipps für sein individuelles Gesundheitsprogramm wünscht, kann hier auf Watsons Wissen zurückgreifen. Das kognitive System hilft auf einer anderen Plattform dabei, für Online-Gesprächstherapien den richtigen (menschlichen) Therapeuten zu finden.

Versicherungen, Ingenieurbüros, Online-Plattformen, Autobauer – sie alle erkennen in Watson ein System, das dabei hilft, firmeninternes Know-how zu bewahren, zu sortieren, auszuwerten und verfügbar zu machen. Jetzt haben sich acht Universitäten zusammengeschlossen, um Watson mit Informationen zu Cyber-Attacken zu füttern. Im Ergebnis soll Watson – Schritt eins – vor Cyber-Attacken warnen, im zweiten Schritt Cyber-Attacken abwehren helfen. Dies wäre in der Tat ein Multimilliarden-Business, das nach einer Lernphase von gut einem Jahr in Angriff genommen werden soll.

Offen ist freilich noch, wie das Watson-Ecosystem, das innerhalb von IBM durch Lauri Saft vertreten wird, finanziell funktionieren soll. Wo liegen die Geldströme, mit denen Big Blue wieder zum Darling der Aktionäre werden möchte? Über die „Watson Developer Cloud“ können Entwickler auf die APIs zurückgreifen, die IBM (das hätte es früher nicht gegeben!) offengelegt hat. Anders als Apple oder Google hofft IBM nicht auf Hunderttausende von Apps mit minimal invasiver Wirkung, sondern auf die mobilen Anwendungsfälle, die Hunderttausende von Spezialisten noch besser, noch effizienter, also maximal invasiv machen sollen. IBM kehrt damit nach einer langen Irrfahrt durch das Me-Too-Business zu dem zurück, was Big Blue einmal groß gemacht hat: Das tun, was andere nicht tun können.

Nur, der Anbietermarkt hat sich geändert: Mit Amazon, Google, Microsoft sind viele unterwegs, die in künstlicher oder kognitiver Intelligenz promovieren und einen Milliardenmarkt anstreben. Der Wettbewerb ist schon heiß gelaufen. Doch für IBM ist Watson die letzte verbliebene Trumpfkarte. Die einzige Antwort, die Watson auf diese Frage hat, lautet: „Watson! Watt sonst?“

 

Wer bringt das nächste große Ding?

Eigentlich müsste sich Tim Cook genüsslich zurücklehnen. Mit insgesamt knapp zehn Millionen Dollar wurde Apples Vorstandsvorsitzender soeben fürstlich dafür belohnt, dass die iCompany sämtliche der gesteckten Ziele erreicht und ein Rekordjahr hingelegt hatte: 53,4 Milliarden Dollar Reingewinn bei 234 Milliarden Dollar Umsatz! Das ist ein Jahrhundertrekord!

Doch die Börse reagierte unwillig – der Apple-Kurs sank innerhalb von fünf Wochen um 18 Prozent und dümpelt nun um die 100 Dollar-Marke. Der Grund: die neuesten Freischaltzahlen rund ums Weihnachtsgeschäft lassen erkennen, dass sich das Interesse an iPhones verringert, nachdem auch die Verkaufszahlen für die Tablets schon zurückgegangen waren. Womit, so fragt man sich, will Apple im neuen Jahr so viel Geld verdienen, dass es zum Rekordjahr aufschließen kann?

Eine Frage, die Microsofts CEO Satya Nadella für seine Company vielleicht schon im zurückliegenden Jahr beantworten konnte. So gelang der Turnaround bei Windows, das mit der „10“ endlich wieder Kunden und Partner gleichermaßen zufriedenzustellen scheint. Selbst das totgeglaubte PC-Geschäft erlebt gegenwärtig ein zartes Revival. Hersteller wie Lenovo investieren nach eigenem Bekunden heftig in Windows 10-basierte Systeme, weil die Kundennachfrage endlich wieder steigt. Lenovo orientiert sich dabei an Produkten, die das Zeug zum nächsten Industriestandard haben: Microsofts Surface Pro 4 und Surface Book als Mittelding zwischen Tablet und Netbook. Sie bilden auch die Plattform für künftige dreidimensionale Anwendungen, die über den Virtual Reality Spezialisten Havok ins Microsoft-Portfolio kommen sollen. Da mag es verschmerzbar sein, das Microsoft im Smartphone-Segment auch mit Windows 10 keine großen Umsatzsprünge macht.

Die gemeinsame Plattform für all das ist hingegen Microsofts Cloud-Strategie, für die nicht nur direkt um große Kunden geworben wird, sondern indirekt um Partner, die mit Infrastrukturangeboten, neuen Dienstleistungen und zukünftigen Anwendungen nicht nur die Cloud beleben sollen, sondern auch das Windows-basierte Geschäft überall: zuhause, im Büro und auf dem Weg zwischen beiden. Die Börse jedenfalls dankt es – mit einem Kursplus von 18,5 Prozent im vergangenen Jahr. Und seit Nadella am Ruder Kurs hält, stieg die Microsoft-Aktie sogar um 45 Prozent!

Und IBM? Big Blue hält seinen Aktienkurs relativ stabil, weil in Armonk konsequent eigene Aktien zurückgekauft werden. Das senkt die Gefahr – so unglaublich es auch klingen mag –, dass IBM zu einem Übernahmekandidat für Apple, Google oder Amazon werden könnte. Aber warum sollte man sich eine Firma mit zu viel altgedientem Personal und Portfolio ans Bein binden? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Watson!

Als Jeopardy-Sieger war der Künstliche Intelligenzbolzen noch eine clevere Spielerei, doch schon mit dem Einsatz als Diagnosehelfer im Medizinumfeld bewies der Watson-Computer seine Ernsthaftigkeit. Jetzt, auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas, kündigte IBMs Vorstandsvorsitzende Ginny Rometty nicht weniger als den Beginn eines neuen Computerzeitalters an und untermauerte diesen kühnen Anspruch mit einigen schillernden Partnerschaften. So macht Watson künftig im denkenden Teil des Haushaltsroboters Pepper von Softbank Furore. Die sprachanalytische Komponente soll den kleinen Hausknecht noch besser befähigen, auf Sprachbefehle seiner Familienmitglieder zu hören. Der Sportausrüster Under Armour will mit Watson seine Fitness-Tracker aufpeppen.

Und der Retailer Whirlpool analysiert mit Watson Milliarden von Kundendaten. Für Unternehmen wie Whirlpool soll ein einfach zu bedienendes Software Development Kit zur Verfügung gestellt werden, mit denen Watson in Eigenregie auf die individuellen Anforderungen im Big Data-Segment getrimmt werden kann. Große Datenmengen, wie sie bei der Digitalisierung der Produktionswelten anfallen, sollen Watsons Spezialgebiet werden. Sechs Labors hat IBM dazu weltweit ins Leben gerufen. Dann wären auch Partnerschaften mit den großen Anbietern von Unternehmenslösungen wie SAP oder Oracle nur noch eine Frage der Zeit.

In der Ära des kognitiven Computings wird Watson auf eine Infrastruktur zurückgreifen können, die IBM in 44 Ländern der Erde etabliert hat: hochverfügbare Cloudservices aus Datencentern, die das Number Crunching von der Pike auf gelernt haben. Watson ist bestimmt eines der nächsten ganz großen Dinger. Wem auch immer IBM dann gehören mag…

 

 

Den Prozess machen

Allmählich trudeln die Technik-Prognosen für das neue Jahr ein. CES und CeBIT werfen ihren Schatten voraus. Doch die Zukunftstrends sind nicht mehr allein durch Technik definiert, wie eine Rückschau zeigt. Die Innovationen des Jahres 2015 lagen nicht in der Technologie, sondern in der Methodologie, nicht im Produkt, sondern im Prozess. Das ist das eigentlich Neue, ja Revolutionäre am soeben vergangenen Jahr, in dem uns deutlich wurde, dass der Megatrend „Digitalisierung“ nicht nur unsere Art der Zusammenarbeit neu definiert, sondern auch die Art und Weise unseres Zusammenlebens. Die Prozesse des Zusammenseins ändern sich überall und setzen die Politik unter Zugzwang. Ein paar Beispiele:

3D-Druck sorgt immer wieder für Hingucker auf den Industriemessen, wo sich Scharen von Messebesuchern um die Vitrinen versammeln, in denen Schicht für Schicht aus Geisterhand ein dreidimensionales Bauteil aufbaut. Dort, wo 3D-Drucker bereits im Einsatz sind, verläuft der Prozess deutlich weniger spektakulär, dafür aber umso effektiver. In der Medizin etwa werden Teile der Prothesen schon individuell nach den Knochen geformt, die sie ersetzen sollen. In der Zahnmedizin ersetzen gedruckte Zahnspangen die herkömmlichen Drahtgeflechte. – Aber ach, die Krankenkassen zahlen noch nicht für diese Innovationen.

In Bayern wurde letztes Jahr das erste Autobahnteilstück als Teststrecke für autonomes Fahren durch den Bundesverkehrsminister freigegeben – sehr zur Freude der bayerischen Automarken. In Kalifornien bestimmte ein Gericht, dass auch autonome Fahrzeuge ein Lenkrad brauchen – sehr zum Ärger von Google, das ein niedliches „Autochen“ entwickelt hat, dessen Selbstfahrfähigkeiten gerade durch den Verzicht auf ein Lenkrad signalisiert wird. Und zur Mobilisierung von Elektrofahrzeugen wird die Diskussion um Subventionen hierzulande lauter. Sehr zum Ärger des Bundesfinanzministers.

2015 war das Jahr der Lieferdienste. Vor allem um den Bringerdienst für Lebensmittel tobt in den Großstädten ein harter Wettbewerb. Kein Wunder – allein in Deutschland wurden 2015 in Deutschland knapp 20 Millionen Pizzen ausgeliefert, besagen Schätzungen. Da lohnt sich die Kombination aus Fahrzeugflotten und flotten Apps. Aber schon gehen die Paketboten in die nächste Runde: Amazon und Google experimentieren mit Drohnen, der Skype-Gründer Ahti Heinla probiert niedliche Transportroboter aus. Doch neben dem Kampf mit der Technik dominiert die Auseinandersetzung mit den Ordnungsbehörden um Überfluggenehmigung und Straßenverkehrsordnung.

Nach Einschätzung der Analysten von Ernst & Young sind Finanzanwendungen für Smartphones das ganz große Ding. Doch allein in Deutschland mussten im vergangenen Jahr 25 Fintech-Startups wieder dicht machen. Überweisungen allein sind offenbar noch kein ausreichendes Unterscheidungsmerkmal zu den Banken, Kredite aber schon. Da wird noch viel Deregulierungsgeist benötigt.

Bei Datenschutz und Datensicherheit hat das EuGH im Oktober den Safe Harbour Act gekippt. Am schnellsten und vollständigsten hat bislang Microsoft reagiert, das in Deutschland seine Cloud-Zentren in die Treuhänderschaft der Deutschen Telekom übergeben hat. Wie das europäische respektive transatlantische Verständnis für den Umgang mit Schutz und Sicherheit nun vereinheitlicht wird, ist nun Sache der Politik.

Und das wird auch 2016 so bleiben – die Politik kommt mit ihrem Regulierungsanspruch hinter dem Innovationstempo der Digitalisierung kaum richtig nach: Die Digitalisierung aller Lebensbereiche wird uns den Prozess machen – Altes wird optimiert, Überkommenes ausgesondert. Im Ergebnis werden unsere Prozesse im privaten und öffentlichen Leben, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft schneller, stromlinienförmiger, smarter und nicht zuletzt: individueller.