Glasnost und Perestroika

Das Selbstopfer, das Microsofts CEO, Steve Ballmer mit seiner Rücktrittsankündigung erbracht hat, scheint – zunächst einmal – den medialen Blutrausch beendet zu haben, in dem seit gut einem Jahr der Kopf des Gates-Nachfolgers gefordert wurde. Und wie gerufen kommen da die Gerüchte um die Windows-Versionen 9, 9.1 und 10, die in diesen Tagen Microsoft-intern vorgestellt werden sollen. Statt über den Nachfolger von Steve Ballmer zu spekulieren, kommen jetzt die Mutmaßungen über den Windows 8-Nachfolger. Wir machen natürlich mit…

Während Windows 8.1 gerade erst die nötigsten Reparaturen am Design der neuen Kacheloberfläche behebt, sollen das 2014 auf den Markt kommende Windows 9 bereits wieder etwas mehr an der luftigen Oberfläche der erfolgreichen Version 7 anknüpfen. Ob dies nun ein Rückschritt oder Seitensprung in der Entwicklungsplanung sein wird, sei einmal dahingestellt. Der ganz große Sprung nach vorn soll ohnehin erst mit Windows 10 kommen, das in Teilen Cloud-basiert sein wird und – schaut, schaut – über Augensteuerung verfügen soll. Nicht vor 2016 ist damit zu rechnen – wir haben also noch Zeit fürs Augentraining.

Große Software-Gewerke wie ein Windows-Betriebssystem brauchen ihre Planungs- und Realisationszeit. Das steht sicher außer Frage. Auch andere globale Softwareanbieter wie beispielsweise SAP oder Oracle denken in Mehrjahreszyklen, wenn sie ihre Lösungsangebote vorantreiben wollen. Auch Siemens dachte stets in großen Zeitzyklen – und musste zuletzt erkennen, dass sich die Zeiten schneller ändern als es die Verfasser von Fünfjahres-Pläne wahrhaben wollen.

Sony hatte es nie verstanden, sein Musikgeschäft in die digitale Ära jenseits von Walkman und CD zu transportieren. Erst der agile Steve Jobs hat es verstanden, mit iPod und iTunes die Musikwelt auf legale Weise in die mobile Cloud zu transformieren. Andere agile Unternehmen wie Google empfinden es nicht als rufschädigend, Produkte wie den Google Reader auch wieder vom Markt zu nehmen, wenn sie feststellen, dass sich die Zeitläufte anders entwickeln und Märkte andere Lösungen brauchen.

Für die Zukunft von Microsoft ist es also gar nicht mal so entscheidend, ob Steve Ballmer geht und wann. Richtungsweisend wird vielmehr sein, welche Führungsriege der oder die Neue mit sich bringt und welche Kultur der permanenten (agilen) Innovation bei Microsoft einzieht. Dass ausgerechnet Bill Gates, der bereits von vielen lauthals zurückgerufen wird, dieser Mann sein könnte, ist kaum wahrscheinlich. Dass eine interne Lösung diese Veränderung mit sich bringen könnte, ist auch nicht zu erwarten.

Als John Akers in den neunziger Jahren das Heft bei IBM aus der Hand gab, folgte ihm mit Lou Gerstner ein CEO mit einem ganz anderen als einem IT-Hintergrund. Der ehemalige Chairman des Tabak- und Keksherstellers RJR Nabisco setzte auf kurze Produktzyklen, langfristige Serviceangebote und erhöhte so den Wert der Marke IBM. Vor allem aber führte er eine Kultur der Offenheit und Umgestaltung ein, die die gesamte Company erneuerte.

Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) sind auch bei Microsoft fällig bis überfällig. Wie alle Unternehmen, die über eine weltumspannende Größe und einen anhaltenden Markterfolg mit wohl gehüteten Cash Cows verfügen, fällt es Microsoft schwer sich auf neue Strömungen schnell und innovativ einzustellen. Das ist nicht allein das Problem des CEO. In einer festgefahrenen Organisation können die klugen Köpfe ihre innovativen Ideen nicht entwickeln, die agilen Manager ihre Lösungen nicht auf die Straße bringen. Der oder die Neue bei Microsoft muss weniger an den Produkten als vielmehr an den Prozessen arbeiten.

Das ist durchaus ein gefährlicher Job. Denn die Fälle sind äußerst selten, in denen diese Erneuerer die von ihnen losgetretene Perestroika überlebten. Lou Gerstner hat es geschafft (bis 2002). Michail Gorbatschow nicht.

Die Revolution frisst ihre Väter

Als Peter Löscher vor sechs Jahren den Vorstandsvorsitz der Siemens AG übernahm, war er der Hoffnungsträger für den Elektrokonzern. Das Unternehmen war gebeutelt, unter Bestechungsverdacht, kämpfte mit sinkenden Margen und notleidenden Großprojekten. Doch der Erneuerer blieb in seinen Umstrukturierungsmaßnahmen stecken und entfremdete sich von seinem Konzern. Am Ende zog der Aufsichtsrat die Reißleine. Nach zwei Gewinnwarnungen im laufenden Geschäftsjahr war die Geduld aufgebraucht.

Jetzt sieht es so aus, als würde sich die Personalie wiederholen – bei Microsoft. Steve Ballmer hat in den zurückliegenden Jahren mehrere wichtige Umbaumaßnahmen vollzogen. Windows 8, Cloud-Initiative und nicht zuletzt das vertikal integrierte Produktangebot aus Systemsoftware, Anwendungen, Services und Hardware. Ein harmonisches Lösungsportfolio für alle Devices vom Smartphone über Tabletts und Laptops zum PC und Server. Gekrönt sollte dies durch jene umfassende Umstrukturierung werden, die alle Geschäftsbereiche in einen übergreifenden Planungsprozess einbindet. Doch am Ende hat – so scheint es – das Konzept namens „One Microsoft“ auch seinen Initiator mitgerissen.

Völlig überraschend hatte Microsoft in einer Pressemitteilung letzte Woche angekündigt, dass CEO Steve Ballmer innerhalb der nächsten zwölf Monate aus dem Unternehmen ausscheiden werde. Eigentlich habe Steve Ballmer die Veränderungen, die er Microsoft verordnet hatte, noch mindestens „bis zur Hälfte der Umstrukturierungswelle“ oder aber bis 2017 als CEO begleiten wollen. Jetzt aber sei man auf der Suche nach einem Nachfolger mit mehr Perspektive.

Als wenn 2017 keine Perspektive wäre? Es gibt viele Hinweise darauf, dass Ballmers Ankündigung seines baldigen Abgangs nicht ganz so freiwillig, nicht ganz so harmonisch mit dem Aufsichtsrat abgelaufen ist, wie es das Kündigungsschreiben in Form einer Pressemitteilung am Freitag glauben machen will. Seit zehn Jahren suche man bereits nach einem geeigneten dritten CEO in der Nachfolge von Bill Gates und Steve Ballmer. Und jetzt, aus dem Blauen heraus, wird das Ende der Ära Ballmer eingeläutet, ohne bereits einen Nachfolger gekürt zu haben.

Aufschlussreich ist auch, was in der Pressemitteilung nicht zu lesen ist. Ein Dank von Gates an Ballmer beispielsweise. Die Gerüchte schwappen hoch, dass möglicherweise der Liebesentzug des Microsoft-Gründers Ballmer zum Rückzug gezwungen haben mag. Gründe für eine kleine Eiszeit zwischen den beiden gäbe es genug. Einerseits läuft die Transition nicht so smooth wie geplant: 900 Millionen Dollar Abschreibung auf die Surface-Produkte, schöngerechnete Verkaufszahlen bei Windows 8, keine besonders attraktiven Erwartungen auf die Ergebnisse des ersten Quartals. Andererseits trifft der Wandel zur vertikal integrierten, End-to-End-Company auch tief in die Dauerdebatte zwischen Bill Gates und Steve Jobs – der eine gründete seinen Erfolg auf Offenheit, der andere auf eine geschlossene, dafür aber durchgehende Produktpalette. Jetzt hat es den Anschein, als würde Ballmer mit One Microsoft das Lager wechseln.

Oder hat der Gutmensch Gates ganz einfach die Verstrickungen von Microsoft in die NSA-Datensammlungen nicht mittragen wollen? Diese Form der Offenheit hatte Bill Gates jedenfalls nie gewollt. Zugegeben – dies hätte den Ruch einer Verschwörungstheorie. Aber weiß man´s?

Denn eines wird man doch fragen müssen: Wieso will sich Microsoft in einer Zeit, in der es um Marktanteile, Wachstum und noch mal Marktanteile geht, von einem bis auf die Haut gefärbten Verkäufer wie Steve Ballmer trennen? Wann, wenn nicht jetzt, wo es nur noch heißen muss: „Execute!“, braucht man einen Top-Salesman wie Ballmer, der seit 1980 bei Microsoft sitzt und der erste Nicht-Technologe im Management war. Was er Microsoft gegeben hat, ist: Organisation. Davor war die Windows-Truppe, um einen Buchtitel zu benutzen: „Barbarians led by Bill Gates“.

Revolutionen fressen nicht nur ihre Kinder, auch ihre Väter. Löscher und Ballmer sind ungleiche Zwillinge. Aber das Boot, in den sie nun nicht mehr sitzen, ähnelt sich doch ungemein.