Der Gott der kleinen Dinge

Als Arundhati Roy 1996 ihr Buchmanuskript zu ihrem Welterfolg „A God of Small Things“ englischsprachigen Verlagen anbot, hatte sie nicht einmal ein Faxgerät, um die Angebote der begeisterten Lektoren entgegenzunehmen. Heute, 16 Jahre später, ist Indien einer der größten Telekommunikationsmärkte der Welt – und irgendwie auf Augenhöhe mit den USA: Denn so wie bei der letzten IBM Information on Demand-Veranstaltung in Las Vegas das Wifi-Netz zusammenbrach, kippte diese Woche zur NASSCOM Indian Leadership Forum in Mumbai das Mobilnetz unter dem Ansturm der ein- und ausgehenden Telefonate, Mails und Textnachrichten.

Als die spätere Booker-Preisträgerin Roy mit der Niederschrift ihres Manuskripts begann, war Indiens IT-Markt immerhin 100 Millionen Dollar groß – zu groß, um übersehen zu werden. In diesem Jahr wird sich der IT/BPO-Umsatz auf 100 Milliarden Dollar vertausendfacht haben – zu groß, um sich nicht zu fürchten. Tatsächlich zeigen sich Sorgenfalten. Kann Indien dieses Wachstum weiterführen? Oder wächst nicht im Gegenteil die Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Weltregionen. Immerhin 60 Prozent der Software- und Service-Umsätze der indischen IT/BPO-Industrie hängt von der Entwicklung der Budgets in den USA ab. Also gilt auch hier: Hustet Amerika, bekommt Indien Schnupfen.

Dennoch sagen die großen IT-Companies in Indien bis 2013 sagenhafte 200.000 neue IT-Jobs im Lande voraus. Bis 2020 werden sensationelle 225 Milliarden Dollar Umsatz für die Branchen angestrebt. Der Grund hierfür liegt nicht nur darin, dass Indien innenpolitisch ein gigantisches eGovernment-Programm losgetreten hat, das die Bürokratien der westlichen Hemisphäre weit hinter sich lassen dürfte. Der Grund liegt auch in einer breit diversifizierten Exporttätigkeit, die Indiens IT-Companies Präsenzen in immerhin 70 Ländern der Welt beschert. Das vielleicht stärkste Momentum dürfte allerdings aus der Tatsache entstehen, dass Indiens IT-Companies den Mittelstand entdeckt haben.

In der Tat: der Gott der kleinen Dinge ist in Indiens IT-Landschaft eingetroffen. Tatsächlich präsentieren sich hierzulande Tausende von kleinen Anbietern, die mit Spezialangeboten für Cloud Computing, Social Media, Mobile Communication und Business Analysis auf Nischenmärkte ausgerichtet sind. Umgekehrt sind Hunderttausende indischer Klein- und Mittelstandsunternehmen  auf der Suche nach IT-Lösungen, die sie OnPremise oder OnDemand einsetzen können. So ist hier ein Zusammenschluss von Textilunternehmen zu sehen, der gemeinsam ein für die Branche optimiertes ERP-System über die Cloud nutzt.

Auch im Business Process Outsourcing (BPO) beginnt die Arbeitsteilung mittelständische Größenordnungen zu erreichen. Im Pharma-Sektor beispielsweise finden sich immer häufiger Unternehmen, die mit gezielten Angeboten entlang des Produktlebenszyklus aufschlagen: Wirkstoffentwicklung, klinische Studien, Patentanmeldungen, Diagnosen – der gesamte Bereich der Forschung und Entwicklung steht zum Outsourcing bereit.

Der Umsatz, den kleine und mittlere Unternehmen durch IT- und Outsourcing-Services erbringen summierte sich im letzten Jahr auf attraktive fünf Milliarden Dollar. Dabei wächst der Markt jedoch um rund 40 Prozent jährlich. Startups sorgen für einen kontinuierlichen Zustrom an Geschäftschancen. Waren es 1995 gerade mal 75 Unternehmen, die im IT-Sektor gemeldet waren, sind es inzwischen 2400. Doch auch in Indien hat der Gott der kleinen Dinge zugeknöpfte Taschen. Ähnlich wie in Deutschland stöhnt der Mittelstand über den schwierigen Zugang zum Kapitalmarkt. Da geht es dem Indian Mittelstand offensichtlich nicht besser als dem German Mittelstand – Dachmarke hin oder her.

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