Krieg der Kanäle

In manchem IT-Keller eines Maschinenbauers mag sie noch ihr Dasein fristen: Die seinerzeit weltweit erfolgreichste Unternehmenssoftware COPICS. IBM hatte das Lösungskonzept für Produktionsplanung, Materialwirtschaft und Logistik 1972 als achtbändiges Kompendium herausgegeben. Mit dieser Blaupause für eine gute Unternehmensführung machten sich zahlreiche Entwickler selbständig. IBM überließ ihnen das Geschäft mit der Anwendungssoftware ganz und konzentrierte sich auf Systemsoftware und Hardware. So entstand das erste Channel-Ökosystem der IT.

Auch SAP entstand 1972 aus der Entscheidung der Gründer, die Ausbeutung der eigenen intellektuellen Leistung selbst in die Hand zu nehmen. Als Mitte der achtziger Jahre schließlich mit R/3 eine betriebswirtschaftliche Standardsoftware der dritten Generation auf den Markt kam, machten die Gründer ihren zahlreichen mittelständischen Konkurrenten ein unwiderstehliches Angebot: Kündige deine eigene Software ab und werde R/3-Vertriebspartner mit Gebietsschutz, Incentives und Ko-Marketing. So entstand das Channel-Ökosystem der zweiten Generation.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Microsoft das Wettrennen um die Marktführerschaft auf dem Desktop bereits für sich entschieden. Tausende Entwickler sahen einen völlig ausgehungerten Markt für PC-Software vor sich und machten sich selbständig. Und sie sahen Millionen kleiner und mittelständischer Firmen ohne eigene Ressourcen, um die Personal Computer und Netzwerke zu betreuen. Und wieder entstand ein Channel-Ökosystem der nächsten Generation.

Von diesen Netzwerken hat nur das SAP-Ökosystem mehr oder weniger unverändert überlebt. Die Welt ist für den Homo SAPiens zwar komplexer geworden, aber im Grunde geht es immer noch darum, der SAP-Plattform mit eigenem Skill und selbstentwickelten Branchen-Formaten zu Anwenderfreuden on Premises oder onDemand zu verhelfen. IBMs Vertriebskanal ist praktisch komplett erodiert. Es dauerte zahllose verlustreiche Quartale, ehe sich IBMs Plattform-Ökonomie auf Cloud Computing neu ausrichtete. Und die Micro Softies der Vergangenheit, die mit goldenen CDs von Anwender zu Anwender reisten, gibt es nicht mehr. Microsoft hat unter Satya Nadella eine völlig neue Plattform-Ökonomie entwickelt, die rund um die Cloud-Angebote Office 365, Dynamics 365 und vor allem Azure angesiedelt ist. Angeblich kommen derzeit Monat für Monat 7500 Partner dieser neuen Spezies ins Netzwerk.

Der Channel ist die treibende Kraft hinter den Erfolgen der Plattform-Anbieter. Amazon konnte das Terrain mit Cloud-Services nur erobern, weil es lange Zeit für Software-Entwickler keine Alternative zu AWS gab. Apples i-Business blühte erst durch Tausend und eine App auf. Und Microsofts Turnaround wäre ohne die Partner nicht denkbar: 95 Prozent der Umsätze mit Unternehmen generiert Redmond über seinen Partnerkanal. IDC schätzt, dass SAPs Channel-Business 100 Milliarden Dollar schwer ist – und sich in den nächsten Jahren verfünffachen könnte.

Längst tobt der Krieg der Kanäle – und die größte Veränderung kommt durch die Partner selbst. Sie müssen ihre Kompetenzen und Qualifikationen auf Managed Services, auf Infrastructure as a Service, auf das Internet der Dinge und auf Software on Demand ausrichten. Sie müssen aus dem Rhythmus der CD-Tauscher auf Warp-Geschwindigkeit umschalten. Deployment ist im Cloud-Zeitalter eine Sache von Sekunden, automatisiert und standardisiert. Und schon revolutioniert die Welle der KI-Anwendungen die Cloud Community, kaum dass sie sich recht etabliert hat.

SAP nimmt diese Herausforderung jetzt bei den Hörnern – einerseits mit einem umfassenden Layoff-Programm, wie es Microsoft und IBM schon hinter sich haben, andererseits mit einer Partneroffensive, für die jetzt Karl Fahrbach als neu ernannter Chief Partner Officer verantwortlich zeichnet. Bei Microsoft ist es das One Commercial Partner Program, das unter anderem Partner-Chefin Gavriella Schuster vorantreibt.

Längst bürgert sich mit der Plattform-Ökonomie ein erweiterter Channel-Ansatz ein, der Kunden mit einbindet. Vorreiter ist hier Salesforce, das soeben seinen 20. Geburtstag feiert. Früh hat Salesforce damit begonnen, für individuelle Ergänzungen der Kunden eine Plattform anzubieten, auf der – wie in einer Mall – diese Zusatz-Apps auch Dritten angeboten werden. Das soll jetzt noch dynamischer werden und den Umsatz von Salesforce in den nächsten Jahren verdoppeln. Auch Microsoft bindet Kunden mehr und mehr in seine Plattform-Strategie ein. Salesforce-Wettbewerber SAP muss hier noch nachlegen.

In der Tat, der Krieg der Kanäle geht in eine neue Runde. Es geht um mehr Tempo, mehr Skill, mehr weltumspannende Partnerschaften für Plattformen, die sich Woche für Woche mit neuen Updates weiterentwickeln. Wer jetzt seine Partner auf Trab bringt, kann Marktanteile für sich gewinnen. Kein Plattform-Anbieter könnte dies im Alleingang schaffen.

Er ist abhängig von seinen Partnern. Früher war es anders herum.

Schlafwandeln in Zeiten des Wandels

Die globalen Unsicherheiten sind so groß wie lange nicht – darin sind sich die Analysten von Gartner, Forrester, IDG oder PwC einig. Und wohl noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges haben weltpolitische Unwägbarkeiten so unmittelbare Auswirkungen auf die strategische Ausrichtung von Unternehmen gehabt wie zu Beginn des Jahres 2019. Und für die IT-Abteilungen ist es ein geradezu unlösbares Rätsel geworden, mit welchen Investments und welchen Projekten man zuerst ins neue Jahr starten soll: mehr Cybersicherheit, mehr Cloud Computing, mehr Big Data Analytics, mehr Internet of Things, mehr mobile Kommunikation oder doch einfach nur die Modernisierung der Enterprise Software? Alles hängt irgendwie mit Allem zusammen. In Zeiten des Wandels tappen wir wie Schlafwandler durch das Dickicht der Optionen.

In der Umkehrung des Koran-Worts– „Wer das Ziel nicht kennt, für den ist kein Weg der Richtige“ – scheint für die IT-Abteilungen derzeit weltweit jeder Weg der Richtige zu sein: sagenhafte 3,77 Billionen Dollar werden in diesem Jahr für Informationstechnik ausgegeben. Das entspricht 3,4 Prozent des für 2019 vorhergesagten globalen Bruttoinlandsprodukts. Und es sind 3,2 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Die Informationswirtschaft boomt, während die Weltwirtschaft zu hüsteln beginnt. Erst 2020 wird sich das Wachstum auch im IT-Sektor abschwächen, sagt die Gartner Group voraus. Dann wird nur noch um 2,8 Prozent zugelegt – auf 3,88 Billionen Dollar.

Und wofür das Ganze? Ein gutes Drittel (1,4 Billionen Dollar) wird für Kommunikationsdienstleistungen verwendet – Daten- und Informationsaustausch entlang der Supply Chain, für die Kundenkommunikation, für sichere VPN-Verbindungen, Schutz vor Cyberkriminalität oder leistungsfähige Cloud- und IoT-Verbindungen. Eine weitere Billion (genau: 983 Milliarden) Dollar geht für IT-Services drauf, worunter vor allem Integrationsprojekte rund um die digitale Transformation und Outsourcing-Aufwendungen fallen dürften. 669 Milliarden Dollar werden für IT-Geräte ausgegeben, weitere 202 Milliarden Dollar für Data Centers. Überraschend hoch werden die Ausgaben für Unternehmenslösungen eingeschätzt: fast 400 Milliarden Dollar werden in Software und Prozesse gesteckt – sie sind die eigentliche Triebfeder des digitalen Wandels.

Dabei bleibt der transatlantische Graben bei der Zielsetzung weiter bestehen: Während in den USA vor allem die Erhöhung des Umsatzes durch neue Kunden und mehr Reichweite als Hauptmotivation gilt, wollen europäische, vor allem deutsche Unternehmen im Wesentlichen schneller liefern, günstiger produzieren und weniger Ressourcen verschwenden. Zusätzliche Marktanteile, so das auf dem alten Kontinent weit verbreitete Management-Mantra, kommen dann ganz von alleine…

Unbeeindruckt von den gegenwärtigen Unsicherheiten setzen die Unternehmen also so oder so auf Wachstum und verordnen ihren IT-Abteilungen eine deutliche Neuausrichtung. Denn während für neue Smartphones oder Personal Computer bei einem Plus von 0,5 Prozent kaum mehr ausgegeben wird als im vergangenen Jahr, steigen die Investitionen in die Data Center fürs Cloud Computing um satte elf Prozent. Die Ausgaben für Software und Prozesse legen um stattliche 9,1 Prozent zu. Die Unternehmen sind also erkennbar auf dem Weg in neue Geschäftsmodelle und suchen nach den Anwendungen, die ihnen dabei helfen.

Und die scheinen vor allem rund um das Internet der Dinge zu entstehen: Die Marktforscher von Global Data erwarten, dass rund 170 Milliarden Dollar im Umfeld von IoT-Projekten verwendet werden. Autonom operierende Dinge sind denn auch nach Ansicht von Gartner-Analysten eines der spannendsten Themen, die sich die Unternehmen für dieses Jahr vorgenommen haben. Sie werden nicht nur aus der Cloud angetrieben, sondern sollen durch künstliche Intelligenz völlig neue Eigenschaften erhalten. Dabei sagen die meisten Unternehmensmanager, dass ihnen im eigenen Haus die Kompetenz und Qualifikationen fehlen, um diese Strategien auch tatsächlich umzusetzen.

Die Schlafwandler sind auf der Suche nach Fachkräften, die es nicht gibt. Goldene Zeiten für IT-Dienstleister, die rechtzeitig auf diese Kernkompetenz gesetzt haben.

 

Meister in beinahe so gut wie fast Allem

Zehnkämpfer haben meine ganze Bewunderung. Sie sprinten über 100 Meter in elf Sekunden, obwohl sie nicht schlank sind. Sie werfen den Diskus über mehr als die halbe Rasenfläche, obwohl sie viel zu leicht sind. Sie springen mit dem Stab auf ein Hausdach, obwohl sie viel zu schwer sind. Sie laufen fast viermal ums Stadion, obwohl sie längst platt sind. Sie sind nirgendwo richtig gut und nirgendwo richtig schlecht. Sie sind Allrounder – und das ist möglicherweise die beste Qualifikation, die man in diesen Tagen haben kann.

Umgekehrt gibt es – zumindest aus Marketingsicht – kaum etwas langweiligeres als einen Allrounder. Es gibt nicht dieses „one more thing“, diese „iKone“, mit dem man das Unternehmen identifizieren kann. Es gibt nicht diesen disruptiven Geschäftsansatz, für den der Name von „ama“ bis „zon“ steht. Es gibt kein Verb, nach dem man „googeln“ könnte. Es gibt einfach nur einen Firmennamen und eine lange Firmengeschichte.

Nein, ich spreche nicht von IBM. Würde ich gerne – aus langer Verbundenheit als Big Blue´s erster Mittelstands-Geschäftspartner in Europa. Ich spreche vielmehr von dem Unternehmen, das bis vor drei Jahren noch als langweilig, gestrig, leider auf dem Desktop unverzichtbar, aber irgendwie sowas von nicht hipp galt: ich spreche von Microsoft, dem derzeit wertvollsten Unternehmen der Welt.

Börsianer verteilen keine Almosen. Wenn also der Marktwert an der Börse den von anderen Unternehmen übersteigt, wenn die Aktie innerhalb eines Jahres um 27 Prozent zulegt, dann ist das ein massiver Vertrauensbeweis. Und dieses Zutrauen in eine weiterhin blühende Zukunft stützen die Analysten auf eine Strategie, die vor drei Jahren „Cloud first, mobile first“ hieß, dann „Intelligent Cloud, intelligent edge“ und heute ganz schlicht lautet: Wenn zehn Prozent des globalen BIP für Technologie ausgegeben werden, dann lass uns diese Technologie liefern. Oder wie es Carsten Knop von der FAZ in seinem Potcast formulierte: „Wenn alle Gold suchen gehen, dann verkaufe Schaufeln!“

Diese Schaufeln heißen Microsoft 365, Office 365, Dynamics 365 und vor allem Azure. Sie bestehen aus Rechenzentren, die rund um den Globus und rund um die Uhr Daten und Anwendungen schaufeln. Sie bestehen aus dem Skill, den Microsoft rund um künstliche Intelligenz immer weiter anreichert. Sie bestehen aus einem Ökosystem aus Partner-Lösungen. Und nicht zuletzt bestehen sie aus dem Vertrauen in das Microsoft-Geschäftsmodell, das nicht auf den Daten der Kunden basiert, sondern auf der Produktivität der Anwender. Je erfolgreicher Microsofts Kunden operieren, desto erfolgreicher operieren Microsoft und seine Partner. Schon jetzt übersteigt der kumulierte Umsatz der Partner mit Microsoft-Produkten den direkten Umsatz der Redmonder.

Wir erleben einen unglaublichen Turnaround und ein Comeback, das innerhalb von drei Jahren aus einem langweiligen Tech-Opa, einen schlanken Tech-Hippster gemacht hat. Das ist die Leistung von vielen Hunderttausend Mitarbeitern, die bei Microsoft und Partnern in Lohn und Brot stehen. Und doch hat dieser Turnaround einen einzigen Namen: Satya Nadella, der CEO, der vor drei Jahren Steve Ballmer als Chef ablöste und eine ganze Reihe von Altlasten über Bord warf, ehe er zu neuen Ufern aufbrach.

Microsft ist lange Zeit als Monopolist verschrien gewesen. Jetzt, als Nummer Zwei hinter Amazon im Cloud Business, als Nummer Drei in der mobilen Welt und als Nummer Vier im Markt für Unternehmenslösungen ist Microsoft nur noch ein „Meister in beinahe so gut wie fast Allem“. Aber als Allrounder in allen angesagten Technologiebereichen des digitalen Wandels ist das Unternehmen plötzlich wieder „Everybody´s Darling“.

Und Satya Nadella ist mein persönlicher „Mensch des Jahres 2018“!

Deutscher Gen-Defekt

„KI made in Germany“ soll zu einem „internationalen Markenzeichen für moderne, sichere und gemeinwohlorientierte KI-Anwendungen auf Basis des europäischen Wertekanons“ werden. So formuliert die Bundesregierung die Motivation für ihre KI-Initiative, die sie im vergangenen Sommer beschlossen hat. Seitdem feiert sie diesen Beschluss wie zuletzt auf dem Digitalgipfel Woche für Woche neu, ohne dass sich aber substanziell etwas getan hat. Schon wieder sind drei, vier Monate ins Land gegangen – und die geplanten drei Milliarden Investitionen wurden so oft erwähnt, dass sie publizistisch wie 300 Milliarden wirken. Aber gibt es auch Konkretes zu vermelden? Ich wüsste nicht!

Dafür wird wieder einmal viel geredet. Denn die Worthülse „moderne, sichere und gemeinwohlorientierte KI-Anwendungen auf Basis des europäischen Wertekanons“ klingt wieder ein bisschen danach, als sollte „am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen“, wie Emmanuel Geibel 1861 schrieb. Tatsächlich – die drei Ziele, mit denen die Bundesregierung ihre Initiative versehen hat, sind so altruistisch und sogleich so wunderbar langfristig angelegt, dass wir nicht unbedingt mit einer Revolution oder gar Disruption durch Gründer und Innovatoren zu rechnen brauchen. Sie lauten:

  • Deutschland und Europa sollen sich zu einem führenden Standort für die Entwicklung und Anwendung von KI-Technologien entwickeln. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands soll gesichert werden.
  • Mit der Strategie soll eine verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Entwicklung und Nutzung von KI sichergestellt werden.
  • KI soll im Rahmen eines breiten gesellschaftlichen Dialoges und einer aktiven politischen Gestaltung ethisch, rechtlich, kulturell und institutionell in die Gesellschaft eingebettet werden.

Es ist abzusehen, dass die Deutschen immer noch über den Sinn und Zweck von künstlicher Intelligenz nachdenken werden, wenn die großen Anbieter aus den USA und China das Land längst mit KI-Anwendungen überschwemmt haben werden, die so sympathisch und hilfreich daherkommen, wie Alexa, Siri und Cortana. Services für Smart Homes und Smart Cities werden sich schneller „in die Gesellschaft einbetten“ als sich die jetzt von der Bundesregierung geplanten Diskussionsgremien bilden werden.

Selbst Microsoft, das inzwischen wieder für die zielstrebige Umsetzung der „Intelligent Cloud, Intelligent Edge“-Strategie von den Aktionären geliebt wird, hat sich jetzt in Deutschland erst einmal einen KI-Expertenrat zusammengestellt. In den USA ist sowas offensichtlich nicht nötig. Vor seiner konstituierenden Sitzung, zu der Vertreter von wichtigen Microsoft-Kunden sowie aus Politik und Wissenschaft eingeladen waren, erklärte der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo di Fabio, das Gremium sei dazu da,Chancen zu identifizieren und den Rahmen für eine humane Gesellschaft mit KI zu entwickeln.“ Also doch wieder erstmal reden…

Es ist ja nicht so, dass wir dem populistischen Spruch von Christina Lindner folgen sollten: „Digital First, Bedenken Second“. Unsere „Bedenken-First, Bedenken Second“-Haltung zieht sich wie ein nationaler genetischer Defekt durch nahezu alle Technologiesprünge der vergangenen fünfzig Jahre: Mainframes, Personal Computer, Video- und Audio-Medien, Internet, mobile Computing, Cloud Computing, Digitalisierung – und jetzt auch künstliche Intelligenz. Können wir denn nicht einfach mal loslegen?