170116 Digital

Eine Digitale Agenda für die Industrie

Größer könnten die Gegensätze kaum sein. Als die Kanzlerin im vergangenen Oktober nach Saarbrücken eilte, um sich dort auf dem IT-Gipfel feiern zu lassen, da waren die Referenten auf dem Podium voll des Lobes über das Erreichte. Die digitale Agenda, so lobte etwa Bitkom-Präsident Thorsten Dirks, sei bereits zur Hälfte abgearbeitet, ein weiteres Kontingent sei in Arbeit und auf gutem Wege.

Sein Vorgänger im Amt als Chef des Hightech-Verbands, Dieter Kempf, hielt jetzt seine erste Pressekonferenz in seiner neuen Rolle als Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie und kritisierte die Umsetzungsquote der Bundesregierung: die digitale Agenda sei in ihren Zielen ungenau formuliert und überhaupt nicht einmal zur Hälfte abgearbeitet…

Kempf berührt, dass in den Bundesgremien das Verständnis für die Digitalwirtschaft nicht ausgeprägt genug ist. Für die einen ist es „Neuland“, wie es einmal der Kanzlerin herausrutschte. Für die anderen ist es das Feld der Profilierung, wie sich am Gerangel von vier Bundesministern um die intellektuelle Lufthoheit zum Thema zeigt. Oder fünf? Seit auch der Gesundheitsminister in die digitale Offensive geht, ist der digitale Chorgesang noch vielstimmiger geworden – aber harmonisch scheint es nicht zuzugehen.

Gleichzeitig geraten die Ziele aus den Augen, beklagt Kempf. Beim Breitbandausbau sei man hinter den gesteckten Zielen zurück. Obwohl die angestrebten flächendeckenden 50 Megabit allenfalls ein Meilenstein seien und kein fernes Ziel, bei dessen Erreichen man ermattet zu Boden fallen könne. Die digitale Wirtschaft kennt kein Ziel. Und sie kennt keinen Stillstand. Beides aber – Zielorientierung und Geschwindigkeit – vermisst Kempf offensichtlich.

Auch fehlendes Problembewusstsein im Umgang mit Cyberterror und Cyberkriminalität ist der Bundesregierung anzukreiden. Kempfs „Leib- und Magenthema“ nimmt breiten Raum ein in der ersten Pressekonferenz. Die Eingriffe, die im Bundestagswahljahr von fremden Mächten drohen („Das kann der Hacker von nebenan nicht!“) dürfen nicht unterschätzt werden.

Dabei scheint es aber auch die mangelnde Aufgeschlossenheit in der Gesellschaft für Wirtschaft im Allgemeinen und Informationswirtschaft im Besonderen zu sein, die dem neuen BDI-Präsident am Herzen liegt. Ökonomische Zusammenhänge besser erklären und Ressentiments in der Bevölkerung gegenüber „der Industrie“ ausräumen – das sind Langfristziele, die Kempf und sein Team sich für die kommenden Jahre setzen. Denn wer die ökonomischen Zusammenhänge versteht, kann auch seine Rolle in der Wirtschaft besser verstehen – zum Beispiel als Gründer, Nachfolger oder als gesuchte Fachkraft.

Denn der digitale Wandel ist kein Spezialthema der Informationswirtschaft, sondern erfasst alle Branchen, alle Organisationen und alle Menschen. Der Mann, der 25 Jahre im Vorstand der genossenschaftlich organisierten Datev saß – zwei Jahrzehnte davon als dessen Vorsitzender – wird das Thema Digitalisierung in den Fachverbänden, die im BDI zusammengeschlossen sind, vorantreiben. Ihm geht es nicht allein darum, Fachkräfte für die Zukunft der Digitalisierung zu rekrutieren – zunehmend und notwendigerweise aus dem Ausland –, sondern auch um die Fragen nach den Arbeitgebern der Zukunft, die die Arbeitsplätze der Zukunft bereitstellen werden. Deshalb ist als Gegenstück zur Digitalen Agenda der Bundesregierung – auch der zukünftigen, übrigens – auch eine Digitale Agenda für die Industrie vonnöten. Noch glauben viel zu viele Mittelständler – unter ihnen auch bestens aufgestellte Weltmarktführer –, dass die Zeit zum Umdenken noch nicht gekommen ist. Da wird es noch viele „Tage der deutschen Industrie“ benötigen, um die letzten Mittelständler abzuholen.

Wenn es eine Mission gibt für den BDI und seinen neuen Präsidenten, dann ist es diese: der digitale Wandel muss nicht allein in den Wirtschaftsblättern des Landes und auch nicht allein in den Fertigungshallen ankommen. Er muss zunächst in den Köpfen ankommen und dort Phantasien für eine Arbeitswelt der Zukunft anstoßen. Es bleibt zu hoffen, dass Kempf nach seiner Amtszeit auf deutlich mehr als die Hälfte erledigter Digitalprojekte zurückschauen kann.

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