170813 Paranoid

Sind wir paranoid genug?

Lange Zeit liefen die Studien über die Deutschen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik nach dem gleichen Schema: Sie verschlafen den digitalen Wandel und gefährden den Wirtschaftsstandort Deutschland. Seit einigen Wochen aber dreht sich der Wind: Von Accenture bis Ziff Davis loben Berater und Publizisten das Streben nach dem Digitalen hierzulande.

Erste Hypothese: Es ist die Sommerpause, die sogenannte Saure-Gurken-Zeit, die uns diesen Sonnenstrahl an Motivation beschert. Nur wer mit abweichenden Ansichten auf dem Meinungsmarkt aufschlägt, hat Aussicht auf Aufmerksamkeit. Das funktioniert natürlich nur so lange, wie es nicht alle tun.

Zweite Hypothese: Wir hören das Pfeifen im Walde, wonach die Gefahren der disruptiven Wirkung digitaler Umwälzungen nicht erkannt werden. Ein „Weiter so!“ ist demnach das Generalthema des deutschen Mittelstands, der nicht erkennt, dass er am Abgrund der digitalen Transformation tanzt. So jedenfalls könnte man eine KPMG-Studie deuten, wonach drei Viertel der deutschen Unternehmer (CEOs) keine Gefahr durch disruptive Veränderungen sehen. Nur 23 Prozent der Befragten sehen ihre Geschäftsmodelle gefährdet. KPMG kommentiert die eigenen Ergebnisse mit einem lapidaren: „Ob das eine zu optimistische Einschätzung ist, werden die nächsten Jahre zeigen.“ Zumindest sind die Deutschen deutlich optimistischer als der weltweite Durchschnitt. Danach befürchten mehr als ein Drittel der Befragten, dass ihnen das Tempo der Innovationen zu schaffen machen könnte.

Dritte Hypothese: Die Deutschen sind wirklich besser als ihr Ruf. 83 Prozent der deutschen Firmenchefs sehen die Entwicklung auf dem Heimatmarkt äußerst positiv und rechnen damit, dass sie ihre eigenen Wachstumsziele vor allem in Deutschland erreichen werden, während andere Wachstumsregionen in den Augen der hiesigen Firmenlenker an Bedeutung verlieren – allen voran China und Indien, aber auch die USA und das durch den Brexit abgeschüttelte Großbritannien. Deshalb rechnen auch 95 Prozent der deutschen CEOs damit, dass sich ihr Geschäftsmodell in nächster Zukunft nicht ändern wird. Weltweit sind davon nur drei von vier Unternehmern überzeugt.

Vierte Hypothese: Die Deutschen starten auf deutlich höherem Niveau in die Digitalisierung als der weltweite Durchschnitt. Zwar sind die Investitionen in Richtung digitalem Wandel hierzulande durchschnittlich geringer als der Weltstandard. Aber die deutsche Industrie verfügt bereits über einen äußerst modernen Maschinenpark und hat zudem eine jahrzehntelange Tradition bei Prozessinnovationen, die möglicherweise noch nicht einmal mehr als Investition in die Digitalisierung wahrgenommen werden. Während in Deutschland zwei Drittel der Unternehmen von „stark erhöhten“ Ausgaben für den digitalen Wandel berichten, sind es weltweit 72 Prozent. Das ist nicht unbedingt ein Erdrutsch-Unterschied.

Der Wettlauf um die Pole Position in der digitalen Welt ist geprägt von paranoidem Verhalten. Es ist wie ein Wettlauf im Dunkeln: Man weiß einfach nicht, auf welcher Position im Rennen man ist und wie sich der Wettbewerb in der nächsten Zeit verhält. Die wichtigste Frage scheint derzeit zu sein: Bin ich paranoid genug? Oder ist die Frage an sich schon paranoid genug?

Möglicherweise lautet die Frage aber auch richtig: Ist die Politik der industrialisierten Länder, mit denen wir Geschäfte machen wollen, inzwischen so paranoid, dass sich Investitionen dort nicht mehr lohnen? Tatsächlich scheint sich der Zuwachs in der weltweiten Öffnung von Wirtschaftsbeziehungen eher zu verringern, wenn sich die Globalisierung nicht sogar zurückentwickelt. 43 Prozent der weltweiten Unternehmer will die Globalisierungsstrategie des eigenen Unternehmens überdenken. Der Grund: Jeder dritte glaubt, dass der weltweite Protektionismus zunimmt und immer mehr Märkte gegenüber dem Einfluss von außen verschlossen werden. Und schlimmer noch: zwei von drei Firmenchefs rechnen mit höheren Steuern – vermutlich auch, weil sich Steuerlöcher durch Aktivitäten in Drittstaaten immer schlechter verbergen lassen.

Und wenn das Image einer Marke das möglicherweise wichtigste Asset im weltweiten Wettbewerb sein sollte – wichtiger noch als Produktionslogistik, Innovationsfähigkeit und Nutzenargumentation (was an sich schon in Frage gestellt werden müsste) –, dann geht es ohnehin nur noch oder zumindest vor allem um die Sorge um den Imageverlust. Die Autoren der KPMG-Studie zeigen sich überrascht, dass Reputationsrisiken bislang nicht in den Studien der Beratungsgesellschaft auftauchten. Jetzt aber gehört der Imageschaden zu den drei großen Sorgen der Unternehmer – mit sogar steigender Tendenz.

Man muss nicht erst auf die Automobilindustrie deuten, um diese Sorgen zu verstehen. Die Wahrscheinlichkeit, im digitalen Wandel auf falschem Pfad zu wandeln, ist in der Tat groß.

Man kann gar nicht paranoid genug sein – heutzutage.

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