190624 Roosevelt

Angst essen Seele auf – und Wohlstand

Es ist nun knapp ein Jahr vergangen, und man gewinnt den Eindruck, dass aus der KI-Initiative der Bundesregierung außer Medienrummel und einer Enquete-Kommission nichts weiter geworden ist. Weder ist aus dem bereitgestellten Topf mit rund drei Milliarden Euro – die allerdings innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren ausgeschüttet werden sollen – etwas bei Startups mit KI-Hintergrund angekommen, noch bei den Lehrstühlen, die sich mit den ethischen, rechtlichen, technologischen, praxisnahen oder anwendungstechnischen Aspekten des KI-Einsatzes befassen. Dass es ein Netzwerk aus etwa 100 KI-Professoren geben soll, die Deutschland zu einem Key-Player im KI-Einsatz machen sollen, ist zwar löblich – zieht sich aber wie so viele „GroKo-Deals“ dieser Legislaturperiode wieder einmal erbärmlich lange hin.

Jetzt hat die Kanzlerin in Dresden auf der Konferenz mit dem bezeichnenden Titel „Morals & Machines“ davor gewarnt, vor lauter Bedenkenträgerei den Anschluss an die globalen Technologietrends zu verpassen. Es ist die radegebrochene Weisheit der Filmfigur „Ali“ aus dem 1974 erschienenen Faßbinder-Melodram „Angst essen Seele auf“, die die Deutschen daran hindert, „fröhlich mit Daten umzugehen“, wie Angela Merkel jetzt beklagte. Oder wie es der 32. Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin Delano Roosevelt, formuliert hatte: „Das einzige, wovor man Angst haben muss, ist die Angst selber.

Die Angst vor neuen Technologien zieht sich in der Tat wie ein sich ständig wiederholender Kanon durch die deutsche Wirtschaftsgeschichte: vom „Kollegen Computer“ über „Lass´ dich nicht erfassen“ bis zum „Jobkiller künstliche Intelligenz“ zieht sich ein endlos gewundenes Band des Zweifels. Und gleichzeitig handeln die Deutschen – wie alle anderen Smartphone-Benutzer weltweit auch – geradezu kontradiktisch, wenn sie bereitwillig mit personenbezogenen Daten für Internetdienste bezahlen.

Der Grund: hier erkennen sie den sofortigen Nutzen aus ihrem Umgang mit Daten – und gleichzeitig kommt KI mit der freundlichen Stimme von Alexa, Siri und Cortana daher. Jedes Navi nutzt KI-Algorithmen, um die Route der Verkehrslage anzupassen – und niemand denkt über moralische und rechtliche Leitplanken nach. In diesem Stil brauchen wir mehr Killer-Anwendungen, die dem Verbraucher den Nutzen von KI vor Augen führen, und keine Killer-Debatten in denen mögliche Gefahren des Missbrauchs von KI herbeigeredet werden.

Denn Anwendungsbereiche mit Überzeugungskraft gibt es genug: Allen voran das Gesundheitswesen – das deutsche ist eines der teuersten weltweit bei allerdings fragwürdiger Effizienz – ist ein idealer Tummelplatz für KI-gestützte Diagnose, Therapie und Pflege. Es wäre doch ein Irrtum, anzunehmen, dass die 100.000 Pflegeplätze, die hierzulande fehlen, nun mit der segnenden Wirkung des Fachkräftezuwanderungsgesetzes befüllt werden. Wahrscheinlicher ist es in der Tat, dass Roboterhilfen den Pflegenotstand schneller mildern als die nun erwarteten Pflegekräfte aus dem EU-Ausland. Angesichts des demografischen Wandels wird es immer wichtiger, professionell Pflegende von Arbeitsdruck zu entlasten und rein mechanische und körperlich-ermüdende Arbeiten den Maschinen zu überlassen.

Ebenso wirkungsvoll ist der KI-Einsatz in der sogenannten User-Experience – egal ob in der Warteschleife eines Servicetelefons oder bei der Auswahl der individuellen Kleidung in einem Online-Shop. Solange Chatbots nach Chatbots klingen und sich im Dialog mit Menschen künstliche Intelligenz eher als künstliche Ignoranz erweist, kann keine positive Erfahrung entstehen. Hier wie auch bei Produktionsprozessen, die agil auf individuelle Kundenwünsche eingehen, gibt es genug Bedarf an Innovationen aus der KI-Forschung. Es ist zu hoffen, dass die vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission in ihren drei Projektgruppen „KI und Wirtschaft“, „KI und Staat“ und „KI und Gesundheit“ vor allem über Nutzenaspekte diskutiert und weniger über Leitplanken. Die Straßenverkehrsordnung entstand auch nicht vor dem Automobil, sondern durch das Automobil.

Jetzt gilt es, nicht mit bangem Herzen, sondern beherzt an die Herausforderungen und Chancen durch künstliche Intelligenz zu gehen. Denn Angst essen nicht nur Seele auf, sondern auch Wohlstand!

 

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