Außerhalb der Neujahrsansprache haben die deutschen Bundeskanzler nur in Ausnahmefällen zum Mittel der Fernsehansprache gegriffen. Konrad Adenauer tat dies 1962 anlässlich des Besuchs von John F. Kennedy, Helmut Schmidt zeigte 1977 nach der Entführung von Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer klare Kante, Hellmut Kohl würdigte 1990 die Wiedervereinigung und Gerhard Schröder erklärte 2003 sein Nein zum Irak-Krieg. Jetzt, 17 Jahre nach der letzten Fernsehansprache, griff Bundeskanzlerin Angela Merkel zu diesem Mittel, um an den gesunden Menschenverstand der Deutschen zu appellieren. In dieser größten Krise seit dem zweiten Weltkrieg – also seit einem Dreivierteljahrhundert – müsse jeder Verantwortung zeigen und möglichst zu Hause bleiben.
Sollte der Appell an den gesunden Menschenverstand nicht wirken, bleiben nur noch rigide staatliche Eingriffe in die persönliche Freiheit: Ausgangsperre, harte Strafen, Überwachung. Schon jetzt bröckeln die Widerstände gegen digitale Durchgriffe. Seit letzter Woche stellt die Deutsche Telekom dem staatlichen Robert-Koch-Institut Millionen Bewegungsdaten von Handy-Benutzern zur Verfügung. Zwar sind die Daten anonymisiert und gruppiert, so dass eine Rückverfolgung auf einzelne Personen unmöglich ist. Zwar beziehen sich die Profile auf die grobmaschigen Zellen im mobilen Netz, so dass eine genaue Identifizierung des tatsächlichen Aufenthaltsorts nur näherungsweise möglich ist. Aber mit dieser Maßnahme wurde eine Leitplanke im Datenschutz überwunden. Das sei „in der gewählten Form datenschutzrechtlich unbedenklich“, urteilte der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber und ergänzte: „Vor allem unter den aktuellen Umständen spricht nichts gegen die Weitergabe dieser Daten zum Zwecke des Gesundheitsschutzes.“
Die Logik ist einfach: Wenn der gesunde Menschenverstand nicht ausreicht, muss digital nachgeholfen werden. Das Robert-Koch-Institut arbeitet offenbar selbst an einer App, mit der Bewegungsmuster genauer – und zwar auf der Basis der GPS-Daten – erfasst werden können. Das ist alles noch weit von den rigiden Methoden entfernt, die zunächst in China, jetzt aber auch in Israel genutzt werden. Dort wird auf personenbezogene Informationen zurückgegriffen, um jeden Einzelnen tracken zu können. Aus deutscher Sicht wäre dies gleich ein doppelter Eingriff in die Privatsphäre.
Und umgekehrt erkennen viele Unternehmen jetzt, dass sie ihre Bürokräfte gar nicht ins Home Office entlassen können, weil sie weder organisatorisch, noch technisch auf Remote-Zugriffe vorbereitet sind. Jetzt bestellen sie zu Hunderttausenden Lizenzen für Cloud und Collaboration. Anbieter wie die Deutsche Telekom, Amazon, Microsoft, Cisco oder IBM kommen dem Vernehmen nach nicht mehr nach. Jetzt rächt sich der langjährige Schlendrian bei der Umsetzung von Digitalisierungsstrategien. Ja, es zeigt sich sogar, dass allzu viele deutsche Unternehmen hinter der Digitalisierung noch weiter zurückhängen als bislang befürchtet. Aber die Angst vor dem Jobkiller Digitalisierung war bislang stärker als der gesunde Menschenverstand. Jetzt behindern mangelnde digitale Infrastrukturen den Versuch, die Zahl weiterer Infektionen zu verringern.
Dabei ist Digitalisierung und vor allem künstliche Intelligenz alles andere als ein Jobkiller – im Gegenteil: sie retten Leben! Dafür gibt es zahllose Beispiele:
Bereits am 31. Dezember 2019 hatte die kanadische Gesundheitsplattform BlueDot vor Viren unbekannter Herkunft gewarnt, ohne deren biologischen Ursprung zu kennen. Das Tool wertete Nachrichten, wissenschaftliche Netzwerke und Meldungen offizieller Stellen aus. Anhand dieser Quellen wurde die Empfehlung abgeleitet, Wuhan weiträumig zu meiden – zu einem Zeitpunkt, als noch nicht von einer Quarantäne die Rede war. Mehr noch: Weil das KI-Tool Flugdaten auswertete, sagte BlueDot voraus, dass das Virus in den Tagen nach seinem ersten Auftreten nach Bangkok, Seoul, Taipeh und Tokio gelangen würde. Und genau das trat bald darauf ein.
Jetzt arbeiten Unternehmen wie die Tübinger CureVac AG an der Suche nach einem Impfstoff gegen COVID-19. Sie brauchen dazu nicht das Virus selbst, sondern lediglich seinen Bauplan. Bei der dafür nötigen Sequenzierung fand man nicht nur heraus, dass COVID -19 aller Wahrscheinlichkeit nach von Schlangen und Fledermäusen stammen. Sie identifizierten auch eine Protease, die dafür verantwortlich ist, dass das Virus überhaupt auf den Menschen übertragen werden kann. Jetzt wird mit hunderten Molekül-Kandidaten am Computer deren hemmende Wirkung auf die Protease simuliert – und KI-Algorithmen optimieren diesen Prozess.
In den USA arbeiten mehrere Initiativen, darunter die Chan Zuckerberg Initiative, Microsoft Research und die National Library of Medicine, an einer KI-Lösung, die die jetzt publizierten Tausende von Corona-Studien durchforstet und die Erkenntnisse zusammenfasst.
Künstliche Intelligenz wird unseren Kampf gegen das Coronavirus weiter begleiten – überall dort, wo menschliche Erkenntnisfähigkeit nicht ausreicht. Und wir werden KI überall dort einsetzen müssen, wo der gesunde Menschenverstand versagt. Die Corona-Krise rückt unsere Prioritäten zurecht. KI ist – um mit Olaf Scholz zu sprechen – die Bazooka gegen das Virus. Sie zu nutzen, ist eine Frage der Vernunft, nicht der Verzweiflung.