Stell´ dir vor, es läuft eine internationale IT-Konferenz – und keiner muss hin. Gerade eben hat Europas größtes Softwarehaus, die SAP SE, seine Hauptversammlung als virtuelles Großereignis inszeniert, das jetzt von jedermann auf der Homepage des Konzerns als Streaming-Angebot nachverfolgt werden kann. Unter Ziffer V seiner Einladung hatten Vorstand und Aufsichtsrat genau geregelt, wie der Stimmrechtsnachweis für die Fernteilnehmer funktioniert und wie während der Versammlung die Stimmabgabe auch vom heimischen Monitor aus geschehen kann: alles ganz korrekt und nach Börsenrecht.
Und parallel dazu hat Microsoft seine internationale Entwicklerkonferenz BUILD, zu der sonst Jahr für Jahr rund 6000 Entwickler nach Seattle pilgern und Tausende von Dollars oder Euros für den Kurztrip ausgeben, ins Web verlegt. Der 48-Stunden-Nonstop-Event lockte diesmal mehr als 100.000 Entwickler und IT-Manager an, die sich für die Online-Sessions akkreditiert hatten. Und ich war einer davon.
Es ist faszinierend, dass CoVid-19 uns einerseits voneinander trennt und doch gleichzeitig so nah zueinander führt. Denn während die Teilnehmer in früheren Jahren von Session zu Session hetzen oder sich für prominente Keynotes schon im Morgengrauen in die Warteschlange vor dem Einlass stellen mussten, um überhaupt einen Platz zu ergattern, konnte man jetzt gemütlich am Schreibtisch oder auf dem Sofa den Präsentationen folgen. Wer wollte, konnte sich Popcorn oder einen guten Wein greifen und alles auf sich wirken lassen. Ja, nicht einmal die sonst notwendige Triage, nach der man sich für eine von mehreren zeitlich konkurrierenden Sessions entscheiden musste, war mehr nötig: in den 48 Stunden wurde rund um den Globus alles von Zeitzone zu Zeitzone wiederholt. Wer etwas in der US-Zone verpasst hatte, konnte zwölf Stunden später zur japanischen Zeit alles wieder nachholen. Und wer doch einiges verpasst hat, kann, ja sollte sich die Streams jetzt anschauen. Allein die deutschsprachige Microsoft-Sammlung zu den Ankündigungen ist 55 Seiten stark.
Und dabei ist in diesem Jahr das Bouquet an Microsoft-Ankündigungen so bunt und variantenreich wie nie – denn es gab auch von der Seite der Präsentatoren kaum eine Begrenzung. Wer etwas zu sagen hatte, bekam einen Slot – angefangen bei der Keynote von CEO Satya Nadella bis zur Insider-Session von Entwickler-Guru Scott Guthrie. Und auch neben der eigentlichen BUILD gab es Platz für Andeutungen und gezielte Durchstechereien – wie etwa die Nachricht, dass Microsoft wohl doch noch einmal einen Versuch mit Windows Phones zu unternehmen plant – aber natürlich mit etwas Bahnbrechendem jenseits der heutigen Smartphones. Satya Nadella deutete dies in einem Interview an und es klang wie der berühmte Satz von Apples legendärem Steve Jobs: „Und da wäre noch eine Sache…“
Eines dieser „one more things“ war der erstmals öffentlich präsentierte Quantencomputer, den Microsoft – nach IBM und Google und vielen anderen – entwickelt und für eigene Zwecke installiert hatte. Mit dem Quantenrechner sollen künftige KI-Lösungen vorangetrieben werden. Und damit möglichst schnell möglichst viele Entwickler ein Gefühl für das Arbeiten mit der nächsten Generation an Supercomputern bekommt, wird das Azure Quantum Developer Kit als Open Source bereitgestellt. Überhaupt wird Microsofts Bekenntnis zu Open Source immer lauter. Das hat seinen Grund: der Wettlauf um die Marktführerschaft in der Cloud geht nicht mehr in erster Linie über den Vertrieb, sondern über die Entwickler. Das hatte Amazon früher erkannt als Microsoft – und zehrt seitdem von seinem Vorsprung.
Die BUILD in Bild und Ton machte es möglich, dass eine gigantische Entwicklergemeinde die nächsten Trends im Cloud- und Edge-Computing miterleben konnten. Weltweit, so wird geschätzt, arbeiten etwa 20 Millionen Software-Entwickler – mehr als die Hälfte von ihnen programmieren keineswegs in den Ökosystemen von Microsoft, Amazon, SAP oder IBM, sondern in den IT-Abteilungen der Kunden, die sich mehr und mehr von internen Software-Abteilungen zu Research- and Development-Departments wandeln. Sie gewinnen entscheidenden Anteil daran, welche Services und Eigenschaften ein Produkt künftig haben wird – egal, ob es sich dabei um ein Auto oder eine Versicherungspolice handelt. Und sie werden die Art und Weise verändern, wie Unternehmen die Kommunikation mit ihren Kunden gestalten, wie sie ihre Supply Chain organisieren und wie Mitarbeiter intern auch remote und aus dem Home Office heraus miteinander kooperieren.
Und darum rankt der größte Teil der Microsoft Announcements: unabhängig von ihrem Standort sollen Software-Entwickler über die Cloud miteinander Ideen austauschen, Projekte planen, Code-Bibliotheken anlegen und fertige Programme debuggen. Als zentrale Plattform dient dabei Microsoft Azure, die mit den Entwicklungsumgebungen Visual Studio und GitHub mehrere Millionen Entwickler unterstützt. Je mehr Anwendungen bereitgestellt werden, desto unverzichtbarer ist Microsoft als Cloud Provider, der inzwischen in 61 Regionen rund um den Globus eigene Data Centers betreibt.
Insofern wird die BUILD in diesem Jahr nicht nur das Vorbild sein für andere IT-Großveranstaltungen von Google und Amazon über Facebook bis SAP, Salesforce und Oracle, die sämtlich bereits als virtuelle Events geplant werden. Das virtuelle Get-together von 100.000 Entwicklern und IT-Managern ist auch ein Vorbild für die virtuelle Zusammenarbeit in der Digital Economy 2.0 nach CoVid-19.
… und keiner MUSS hin 🙂 … das ist historisch, lieber Heinz-Paul.
Ich vermisse die „echte“ BUILD genau so sehr, wie die Menschen. Und ich bin gleichermaßen begeistert von Deiner Perspektive.
Vielen Dank!!
„Never waste a good crisis.“
– wie schon Winston Churchill wusste 🙂