2000913 Komfort

Raus aus der Corona-Komfortzone

Nichts sei älter, so sagt man, als die Zeitung von gestern. Der Satz aus der guten alten analogen Welt dürfte noch mehr auf die neue digitale Welt zutreffen. Aber in beiden Fällen gilt auch: Je älter Zeitungen werden, desto spannender werden sie auch wieder. Nehmen wir zum Beispiel die Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar 2020, in der unter „Vermischte Meldungen“ folgendes zu lesen ist:

„Eine bisher nicht identifizierte Lungenkrankheit ist in der zentralchinesischen Metropole Wuhan ausgebrochen. Bislang seien 44 Menschen erkrankt…“ Und dann der letzte Satz: „Die Weltgesundheitskommission setzte ein Untersuchungsteam ein.“

Was da unter „Vermischtes“ erstmals auftrat, hat die Weltwirtschaft und die globale Gesellschaft ins Mark getroffen. Aber es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Wirtschaft und Gesellschaft zu Beginn des Jahres 2020 bereits ins Mark getroffen waren – vom Ende der boomenden Konjunktur, vom Greta-Menetekel, von zunehmendem Nationalismus und Populismus. Die Lufthansa warnte vor einem schwierigen Jahr im Flugverkehr, die Automobilindustrie erkannte eine weltweite Absatzkrise, der Export sah seine Möglichkeiten durch Handelskriege eingeschränkt, Behörden riefen Infrastrukturzuschüsse aus Mangel an Planungskapazitäten nicht ab, Bildungsexperten sahen von der Kita bis zur Uni einen Investitions- und Innovationsrückstau – und der Mittelstand warnte erstens vor den Kosten der Klimaneutralität und zweitens davor, dass für die überfällige Digitalisierung in Zeiten starker Konjunktur die Zeit gefehlt habe, in der beginnenden Rezession aber das Geld für die digitale Runderneuerung fehle.

Corona hat die Weltwirtschaft in eine nie dagewesene Krise geworfen. Aber das Virus traf bereits auf eine angeschlagene Wirtschaft, die – zumindest in Deutschland – die milliardenschweren Soforthilfen dankbar angenommen hat, weil sie auch die eigenen Versäumnisse damit zudecken konnte. Der Schwenk ins Homeoffice und der damit verbundene Digitalisierungsschub war keine Meisterleistung, sondern eine längst überfällige Aktion von digitalen Nachzüglern. Und nur 40 Prozent der von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände befragten Mitarbeiter trauen ihrem Unternehmen überhaupt zu, dass sie die dabei gewonnene Flexibilität auch in die Zeit nach Corona hinüberretten werden.

Jetzt fordert Mittelstandspräsident Mario Ohoven von der Politik eine „Agenda 2025“, damit Deutschland „besser aus der Corona-Krise kommt“. Die Forderung ist so richtig wie trivial, so überfällig wie überflüssig. Denn es ist eine Sache, nach staatlicher Förderung für Neustrukturierungen, nach verbesserten Rahmenbedingungen für Wagniskapital, nach noch mehr Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel zu rufen. Die andere Sache aber ist, auch endlich zu handeln. Viele Unternehmer haben sich in der Zeit der guten Konjunktur und anschließend in der Corona-Krise als Unterlasser gezeigt. Natürlich gibt es die existenzbedrohenden Umsatzeinbrüche, das Wegbrechen von Lieferketten und Märkten im Lockdown – aber mit Kurzarbeit und Soforthilfen ließen sich auch so manche hausgemachten Probleme übertünchen. Corona ist – auch – eine intellektuelle Komfortzone, in der es sich leicht begründen lässt, keine Zukunftsvisionen zu haben.

Die Politik und die sie beratenden Wirtschaftsweisen rechnen damit, dass sich die deutsche Wirtschaft erst im Jahr 2022 vollständig von der Krise erholt haben wird – und auch das nur dann, wenn es nicht zu einem erneuten Lockdown in einer zweiten pandemischen Welle kommt. Dabei wird so getan, als sei der Wettbewerb mit den USA und China ganz naturgegeben schon verloren. Chinas Agenda für 2025 wurde erstmals vor zehn Jahren formuliert und wird seitdem kontinuierlich fortgeschrieben. Sie umfasst so kritische Technologietrends wie das Internet of Things und Smart Factories, Machine Learning und künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Gentechnik, Smart Home und Smart Cities, Blockchain und Fintech, Security und Cybercrime.

Und wir? Wir haben eine KI-Enquete-Kommission, die nach langem kreißen eine Kommuniqué-Maus gebiert, Initiativen, denen die Initiative fehlt, und Unternehmen in der Corona-Komfortzone. Raus da, aber schnell!

 

 

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