201005 IMD

World Wide Wiedervereinigung

In der Woche vor dem 3. Oktober, dem 30. Jahrestag der Wiedervereinigung, konnte man auf praktisch allen Kanälen noch einmal Einblicke nehmen, wie – ja sagen wir es ruhig – verkrustet, bräsig und spießig die Gesellschaft damals war. Das gilt für den Westen nicht weniger als für den Osten, in dem noch der massive Renovierungsrückstau der Infrastruktur und die erschütternde Paralyse einer in ihrer Ideologie gefangenen Gesellschaft hinzukamen. Und beim Blick in schmucke Innenstädte, auf intakte Autobahnen, rausgeputzte Bahnhöfe und im Angesicht einer Bevölkerung, die sich weniger in Ost und West teilt, als immer noch behauptet wird, könnten wir uns doch ein wenig selbstzufrieden auf die Schulter klopfen. Wir haben in den 30 Jahren in die Erneuerung des Landes mehr investiert als bei den Rettungsmaßnahmen in der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise und der Covid-Pandemie zusammen.

Aber gleichzeitig tun sich neue Gräben auf – nicht nur der zwischen den angeblich Zurückgelassenen oder Nicht-Abgeholten und der Elite, sondern der Graben zwischen Armen und Reichen oder die Kluft zwischen Bildung und Unbildung. Und es gibt eine tiefe Schlucht zwischen den Technologie-Aversen und den Technologie-Adepten. Alle vier Konflikte – der zwischen Ost und West, zwischen Arm und Reich, zwischen Bildung und Unwissenheit und der zwischen Analogen und Digitalen – sind nicht deckungsgleich, sondern überlagern sich in einem föderalen Flickenteppich. Hier gibt es keine einfachen Lösungen, sondern hundertfache Sonderwege in Berlin, München, Rhein/Ruhr, auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern oder in Hessen.

Das ist mein Erklärungsversuch für die so schmerzlich zu beobachtende Unfähigkeit in diesem Land, einen Durchbruch in wenigstens einem der Megatrends zu schaffen. Wir feiern zwei, drei Biotechfirmen, die jetzt ganz vorne in der Impfentwicklung gegen das Coronavirus mitmischen, aber von der ehemaligen Apotheke der Welt sind wir meilenweit entfernt. Wir können stolz sein auf vergleichsweise wenig Corona-Tote, leisten uns aber ein Gesundheitswesen, das auch deshalb so kostenintensiv ist, weil es so ineffektiv ist. Wir gehören (immer noch) zu den führenden Forschungsnationen der Welt, schaffen es aber nicht, die Ergebnisse der Grundlagenarbeit auch in innovative Produkte umzuwandeln. Und wir laufen mit unseren Initiativen bei künstlicher Intelligenz, 5G-Ausbau, Daten-Cloud, autonomen Systemen oder in der Energiewende hinter den Peer-Nationen her, mit denen wir uns eigentlich auf Augenhöhe treffen müssten.

Doch in der jetzt von den Ökonomen der Wirtschaftshochschule IMD erneut aufgelegten Studie zur infrastrukturellen und technologischen Ausstattung von 63 untersuchten Ländern rangieren wir gerade noch im oberen Drittel – auf Platz 18. Im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2016 ist Deutschland sogar von Platz 16 zurückgefallen. Und gleichzeitig ist auch der Abstand zu den Top Ten noch größer geworden als es die acht Ranglistenplätze deutlich machen. Die zehn innovativsten Länder – darunter nicht nur die üblichen Verdächtigen wie die USA und China, sondern auch Lettland und Dänemark – rücken insgesamt gesehen von der Verfolgergruppe ab.

Es macht keinen Spaß, über diesen fortdauernden schleichenden Niedergang zu schreiben. Und wahrscheinlich macht es auch keinen Spaß, darüber zu lesen. Aber es ist nötig, dass wir über diesen Dauerzustand endlich Klartext reden und vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, in denen Unternehmertum, Gründergeist, Risikobereitschaft, Bildungswille und ja: Empathie gedeihen können. Es ist wichtig, ausführlich über die Ethik hinter Algorithmen nachzudenken. Aber wir dürfen darüber das Handeln nicht vergessen. Es ist richtig, die digitale Souveränität einzufordern, aber dazu müssen wir einen jahrzehntelangen Rückstand aufholen. Es ist notwendig, die mangelnde Ausstattung unserer Bildungseinrichtungen anzuprangern und zu beheben, aber wir dürfen dabei nicht die Bildungsinhalte für die Themen und Berufe von morgen vergessen, die es zu vermitteln gilt. Es ist nicht verkehrt, über die Auswirkungen von Robotern am Arbeitsplatz zu sprechen, aber wir dürfen dabei nicht die Chancen zerreden, die sich daraus ergeben.

Wir brauchen eine Wiedervereinigung im Geiste – die nicht Ost und West zusammenschmiedet, sondern den gesunden Menschverstand wieder über Verschwörungstheorien und alternative Fakten einsetzt. Am 9. November vor 30 Jahren hat der Fall der Mauer Europa verändert. Aber am 12. März vor 30 Jahren hat die erste Nachricht über das World Wide Web die physische und die virtuelle Welt verändert. Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass diese Revolution vielleicht doch die mit den größeren Folgen ist. Wir brauchen eine World Wide Wiedervereinigung.

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