Michael Kappeler

Tage des Internets

Etwas Positives lässt sich der Corona-Krise letztlich doch abgewinnen: Da Großveranstaltungen abgesagt bleiben und die Events nun virtuell stattfinden, kann man auch an Ereignissen teilnehmen, die zeitlich und räumlich konkurrieren. Sonst wäre es wohl nicht möglich gewesen, in den USA an einer Microsoft-Konferenz teilzunehmen und trotzdem den Tag der Industrie nicht zu verpassen. „TDI“, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie den Event inzwischen wohl in einer Verneigung vor der Automobilindustrie zu nennen beliebt, steht damit nicht nur für Turbocharged Diesel Injection, sondern erst recht für „Tag des Internets“.

Und es wird wohl noch viele Tage des Internets geben angesichts der Hotspots in den Großstädten. Wir hängen am seidenen Faden – und der besteht aus der Bereitschaft in der Bevölkerung, sich an die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus zu halten. Doch die Nachrichten von kommerziell veranstalteten Kellerparties, die geradezu mit dem Verstoß gegen die Pandemie-Regeln werben, geben nicht unbedingt Anlass zu Optimismus. Und so wird der Leitsatz des BDI-Positionspapiers zur Wirtschaft in der Pandemie nur ein frommer Wunsch bleiben. Er lautet: „Die Wirtschaft muss davon ausgehen können, dass ein flächendeckender Lockdown
ausgeschlossen werden kann. Planungssicherheit und Vertrauen sind unerlässlich
für diese Phase der Stabilisierung.“

Das ist weniger an die Politik gerichtet, als vielmehr an die Unbelehrbaren. Sie gefährden den Wiederanlauf der Wirtschaft. Und sie gefährden letztlich sogar mutwillig ihre eigenen Arbeitsplätze. Sie gefährden ihren eigenen Wohlstand durch den Wunsch nach einem zweifelhaften Wohlgefühl. Doch maskenfrei im Alkoholrausch menschliche Nähe zu suchen, ist kein Menschenrecht, sondern ein Vergehen an der Gesellschaft. Dass es sich bei diesen „Feier-Biestern“ in der Regel um den gleichen Teil der Bevölkerung handelt, der zugleich vehement nach staatlicher Unterstützung ruft, wenn der eigene Wohlstand gefährdet ist, sei hier nur angemerkt. Es ist nicht das Thema dieses Blogs…

Das Thema ist vielmehr das Wort „Optimismus“, das wie ein Leitstern über dem Tag der deutschen Industrie hing, der dank eines ausgefeilten Hygienekonzepts doch nicht ganz körperlos stattfinden konnte. Und so war es auch durchaus körperbetont, wie BDI-Präsident Dieter Kempf die Wirtschaft in die Pflicht nahm und ihre Bereitschaft betonte, die mit dem Klimawandel und der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen anzunehmen, ja sogar positiv anzupacken. „Wir packen´s an“, sagte er und griff damit – wohl ohne es zu wollen – ein Wort der Kanzlerin aus dem Jahr 2015 auf. Und vielleicht ist dieses „wir packen´s an“ die wesentliche Botschaft nicht nur für diesen Herbst, sondern auch für die Erreichung der Klimaziele bis 2030, 2040 oder 2050.

Das geht aber nicht, wenn die Digitalisierungsziele ebenfalls so lapidar bis 2030, 2040 oder 2050 prolongiert werden. Seit einem halben Jahr beweisen uns die digitalen Großveranstaltungen, dass man über Bandbreite mehr Menschen erreichen kann als über Ausstellungsfläche. Das Messewesen ist bereits vor Corona in einer Sinnkrise gewesen – und die Zwangsvirtualisierung weist ihnen einen Weg in die Zukunft. Doch wer den „Tag des Internets“ ruckelfrei erleben wollte, musste schon in einer der bevorzugten Gegenden Deutschlands leben. Nie wurde uns die mangelhafte Ausstattung mit 5G-Bandbreiten lebhafter vor Augen geführt, als in diesen Lockdown- beziehungsweise Beinahe-Lockdown-Zeiten.

Aber wir stehen nicht nur vor einer Technologie-Wende. Wir stehen auch vor einer Wende im gesellschaftlichen Gefüge. Dieter Kempf hat dies sehr weise angesprochen: es geht um den Erhalt des globalen gesellschaftlichen Konsenses, der sich im freien Handel und im Austausch von Ideen äußert – nicht in Schutzzöllen und alternativen Fakten. Und es geht um die Frage, wie jene Menschen, die durch die Globalisierung und die Digitalisierung ihre Arbeitsplätze verlieren, dauerhaft für neue Aufgaben qualifiziert werden können.

Wie in einem Brennglas fokussiert das Corona-Virus unsere eigentlichen Probleme in einem Punkt. Sie wurden am Tag der Industrie sichtbar. Aber lösbar werden sie erst in den kommenden Tagen des Internets.

 

 

 

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