210406 Trägheit

Das gefährlichste Virus ist die Trägheit

Der Cloud-Spezialist SalesForce hat tief in die Seele seiner kleinen und mittelgroßen Kunden geschaut und dazu in einer groß angelegten zweistufigen Befragung im März und August des vergangenen Jahres gut 2300 Unternehmer rund um den Globus befragt – jeweils rund ein Drittel davon in Nordamerika und Westeuropa. Die – zumindest für mich erschreckende – Erkenntnis daraus lautet: Der Mittelstand wiegt sich in scheinbarer Sicherheit und denkt nur sehr zögerlich über Veränderungen nach. Die positive Nachricht dahinter aber ist: Wer seine Geschäftsmodelle überdenkt, mit digitalen Methoden neu ausrichtet und dabei das gesamte Liefernetzwerk und die Kunden im Blick behält, kann schneller und konsequenter auf Marktveränderungen reagieren als diejenigen, die weiter am Altbekannten festhalten.

Wie gering nach wie vor der Wille zum Wandel ist, zeigt sich an den Top-Prioritäten angesichts der Ansteckungsgefahren durch das Corona-Virus. Statt vor allem das eigene Geschäft digital neu auszurichten und alternative Geschäftsmodelle wie Click-and-Collect oder Click-and-Meet auszuprobieren, investieren mittelständische Unternehmer lieber in Hygienemaßnahmen wie Abstandsregelungen oder Desinfektion und bauen Ladenlokale, Bürogebäude oder Fabrikationshallen um. Nur 48 Prozent nennen kontaktlose Services wie digitale Bestellmöglichkeiten, neue Formen der Kundenservices oder der Mitarbeiterkommunikation als eine der Maßnahmen unter vielen, mit denen dem Corona-Lockdown begegnet wird.

Dabei zeigt sich eine spannende Lernkurve zwischen der Erstbefragung vor einem Jahr und der Folgebefragung: denn im August fanden 53 Prozent der Mittelständler, dass es wichtig wäre, neuartige Angebote auf den Markt zu bringen, während es im März noch 13 Prozent weniger so sahen. Aber auch hier liegen neue digitale Geschäftsprozesse im Hintertreffen: Nur 39 Prozent der Befragten fanden im August, dass es wichtig wäre, den Kunden eine vernetzte Customer Experience zu bieten – etwa dadurch, dass bei Kundenreklamationen alle fallbezogenen Informationen sofort zur Verfügung stehen und nicht vom Kunden pausenlos wiederholt werden müssen. Nur ein Drittel der Mittelständler sah das im März 2020 so.

Die Corona-Krise hat den Mittelstand aber offensichtlich eines gelehrt: es reicht nicht, nur in die Neukundengewinnung zu investieren – die Bindung bestehender Kunden gewinnt demgegenüber an Stellenwert. Dies gilt nicht nur für den Konsumgüterbereich, sondern auch für Investitionsgüter, wobei sich Technologieanbieter noch am stärksten auf Wachstumsstrategien durch Neukundengewinnung konzentrieren.

Zwar sieht sich rund die Hälfte der Befragten durch die Corona-Maßnahmen in der Existenz gefährdet – doch die überwiegende Zahl der Unternehmer setzt eher auf ein „Weiter so“ als auf disruptive Erneuerung. Die optimistische Grundeinstellung trübt sich allerdings im März-August-Vergleich ein. Nachdem zunächst 80 Prozent die Zukunft ihres Unternehmens positiv sahen, waren es in der Zweitbefragung nur noch 72 Prozent  – ein Rückgang um zehn Prozent also.

Diese positive Grundeinstellung – um nicht zu sagen: dieser Realitätsverlust – versperrt denn auch offensichtlich den Blick auf die Chancen der digitalen Transformation. Weniger als die Hälfte der Entscheider glaubt, dass der Technologieeinsatz „förderlich für die Aufrechterhaltung des Betriebs“ sein könnte. Noch weniger – nämlich nur vier von zehn Unternehmern – glauben, dass sich die Mitarbeiterproduktivität durch Technologien erhöhen lässt. Die geringe Technologiebegeisterung hat Gründe. Als wichtigste Kriterien für die Beurteilung von Technologien nannten die Befragten Benutzerfreundlichkeit, Vertrauenswürdigkeit der Anbieter und den Preis. Erst danach kam ein erster nutzenorientierter Aspekt mit dem Einfluss auf die „Customer Experience“.

Nun mag die SalesForce-Studie in einem Punkt verzerrt sein. Der klare Spezialist für Customer Relationsship Management legt den Schwerpunkt der Befragung natürlich auf kundenorientierte Geschäftsprozesse. Dennoch zeigt sich, dass sich der Mittelstand offensichtlich in einer scheinbaren Sicherheit wähnt, die dazu verleitet, die Krise einfach nur auszusitzen statt auszunutzen. Doch geistige Trägheit ist vielleicht noch gefährlicher als das Virus – und wahrscheinlich auch langlebiger.

Hier zeigt sich, wie groß der Beratungsaufwand noch ist, der betrieben werden muss, um mittelständische Entscheider dazu zu bewegen, ihr Geschäftsmodell von Grund auf neu zu denken und digital zu erneuern. Doch auch das Consulting liegt in Zeiten des Corona-Lockdowns danieder. Auch das hat seine Ursache im unangebrachten Optimismus: Auch die mittelständischen Software-Unternehmer und Unternehmensberater haben sich noch nicht aufraffen können, ihr eigenes Geschäftsmodell und die Art, wie sie mit Kunden umgehen, zu überdenken. Das aber tut dringend not. Corona wird uns erhalten bleiben wie jedes andere Grippe-Virus auch – und wie auch die geistige Trägheit. Leider!

Heinz-Paul Bonn bloggt seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Themen der Digitalwirtschaft. Mit HPBonn.Consulting berät er Unternehmen und Persönlichkeiten aus der Szene. Mehr erfahren Sie hier.

 

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