The spiers, weather vanes, the roofs of the old city on the background of modern buildings in Tallinn.

Konzerne wie Staaten

Als der Rubel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Estland nicht mehr rollen wollte, musste sich der Baltikumstaat, der mit 1,3 Millionen Einwohnern ungefähr so bevölkerungsreich ist wie Köln, völlig neu erfinden. Weil es praktisch kein Bankensystem mehr gab, wurden Computerüberweisungen das Mittel der Wahl. Der damalige Bildungsminister Jaak Aviksoo setzte es in einem Land durch, in dem bis zur Unabhängigkeit gerade einmal jeder zweite Haushalt über ein eigenes Telefon verfügte, dass alle Schulen vernetzt werden und alle Haushalte ein Recht auf einen Internet-Anschluss haben. Gleichzeitig wurden die Dienstleistungen der Öffentlichen Hand digitalisiert (und entschlackt), so dass heute 99 Prozent aller Behördengänge online erfolgen können.

„Tiigerihüpe“, zu Deutsch Tigersprung, nannten das die Esten. 2005 fand die erste Kommunalwahl mit der Möglichkeit statt, online zu wählen; inzwischen gilt das auch für die Wahlen ins Nationalparlament. Und die Gründung einer Firma erfolgt – natürlich online – in weniger als einer halben Stunde. Kein Wunder, dass Estland eines der Startup-Epizentren Europas ist. „Anders als Supertanker kann das Kajak Estland auf dem Punkt wenden“, sagte einst Lennart Meri, bis 2001 Ministerpräsident von Estland. Und die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid gab 2019 mit Blick auf die Digitalisierung in Deutschland dem Spiegel zu Protokoll: „Wir reden über einen Abstand von 20 Jahren. Wir hätten nicht gedacht, dass große Volkswirtschaften es sich erlauben können, bei der Digitalisierung so weit zurückzufallen.“

Auch wenn in diesem Zitat ein wenig der erhobene Mittelfinger des ehemaligen Underdogs zu hören ist – die Esten führen ihr Land wie ein Unternehmen. Das funktioniert – so mag man einwenden – in einem Land überschaubarer Größe mit vergleichsweise geringer Einwohnerzahl. Aber ein Staatsgebilde wie die Bundesrepublik funktioniert nach anderen Regeln. Aber tut sie das? Es ist faszinierend, dass umgekehrt immer mehr global operierende Konzerne, die über mehr Mitarbeiter verfügen als Estland Einwohner hat und zugleich rund um den Globus operieren, sich inzwischen verhalten, als würden sie den staatlichen Aufgaben der Fürsorge, Vorsorge, Nachhaltigkeit und dem Schutz der Bürger mit der gleichen Corporate Governance nachkommen, wie den Interessen ihrer Aktionäre.

Microsoft zum Beispiel hat auf dem Höhepunkt der ersten Pandemie-Welle nicht nur die eigenen Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt, sondern gleich die ganze Bay-Area rund um Seattle in die Lage versetzt, im Lockdown von zuhause zu arbeiten. Das Unternehmen hat massiv gespendet, um das öffentliche Leben am Puget-Sound aufrecht zu erhalten und Initiativen im Gesundheits- und Bildungswesen unterstützt. Inzwischen gibt es eine Online-Plattform, über die das Wohlbefinden der Mitarbeiter getrackt werden könnte, wenn die Betroffenen dieser „fürsorglichen Umarmung“ zustimmen.

Während Deutschland in einem heroischen Akt, durch Kurzarbeitergelder zwei Millionen Arbeitsplätze abgesichert hat (und das sogar bei Unternehmen, die daraufhin eine dicke Dividende an ihre Aktionäre auszahlen konnten), hat Amazon 75.000 Arbeitsplätze geschaffen. Während in Deutschland darüber diskutiert wird, das Minimalqualifizierte kaum noch Beschäftigung finden werden, gibt Amazon – bei aller zum Teil berechtigten Kritik an den dortigen Arbeitsbedingungen – gerade Angelernten und Ungelernten am oberen Ende der Mindestlohnregelung Arbeit.

Google, respektive deren Mutter Alphabet, würde als Renditekönig an der Börse gelten, würde der Konzern nicht mehr in Forschung und Entwicklung investieren als manche Staaten in ihren Verteidigungshaushalt. Die Umsätze dieser Internetkonzerne überragen inzwischen das Bruttoinlandsprodukt von sogenannten Schwellenländern. Und deren Gewinnprognosen haben eine ähnliche Bedeutung wie die Steuerschätzungen der führenden Volkswirtschaften.

Sie operieren als vertikal integrierte Unternehmen, die nicht nur ganze Lebensströme von der Quelle bis zur Mündung organisieren und dominieren. Amazon zum Beispiel beherrscht inzwischen den gesamten Mediaprozess von der Bucherstellung über Kindle bis zum Vertrieb gebrauchter Lektüre, von der Serienproduktion bis zu Streamingdiensten. Mit seiner Cloud Plattform AWS unterstützt Amazon nicht nur Startups bei der Entwicklung ihrer Digitalprodukte, sondern profitiert auch gleich von deren Wachstum. Das ganze funktioniert wie klassische Wirtschaftsförderung – nur erfolgreicher.

Amazonien, Googlestan, Microsoftanien sind die Industrienationen der Moderne. Dagegen sind die deutschen Pendants – wie SAPLand, Siemensurinam oder die Volksrepublik Wagen – nur Kleinstaaten. Und Staaten zahlen auch keine Steuern an Dritte: Im Selbstverständnis von Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg gibt es keine Verantwortung mehr gegenüber Staatengebilden – sie sind nur noch ihrer Community, ihren Einwohnern gegenüber verantwortlich.

Konzerne wie Staaten – und erfolgreiche Staaten, die wie Konzerne handeln. Das ist womöglich schon jetzt die am weitesten greifende Entwicklung der zwanziger Jahre im einundzwanzigsten Jahrhundert. Schon jetzt sind auch die Commitments dieser Unternehmen bezüglich Klimaneutralität oder sogar negativer CO2-Bilanz anspruchsvoller als die mancher Nationalstaaten. Wir müssen uns dabei eines fragen: wie können wir diese Staaten-Konzerne unter Kontrolle halten? Oder entgleiten sie der Weltgemeinschaft, wie das bei so manchem oligarchischen oder autokratischen Staat heute schon der Fall ist. Oder die Staaten folgen dem Beispiel Estlands und entwickeln sich wie Konzerne – schneller, schlanker, agiler.

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