210718 Inspire

Alles wird virtuell – eventuell

Da hätte man auch schon früher draufkommen können: eine komplette Umgebung für den Desktop, die über einen beliebigen Browser aus der Cloud geliefert wird. Kein Support-Mitarbeiter mehr, der einen bei der Arbeit stört, weil er ein dringendes Service-Pack aufspielen will. Keine verzögerten Sicherheitsfeatures, das Hackern Tür und Tor öffnet. Und keine DAUs mehr – also die „dümmsten anzunehmenden User“ –, die es nicht auf die Kette bringen, eine neue App zu installieren und zu individualisieren.

Das ist Windows 365, das jetzt auf der virtuellen Partnerkonferenz Microsoft Inspire angekündigt wird und schon im Oktober allgemein verfügbar sein kann. Der Clou an diesem nächsten cloud-basierten Virtualisierungsschritt besteht nicht nur darin, dass jede individuelle Anwenderumgebung künftig in der Cloud gewartet und dann im Browser überall auf der Welt bereitgestellt werden kann. Der eigentliche Clou des „Cloud-PC“ besteht in der Tatsache, dass künftig Windows auf jedem Endgerät laufen kann – egal ob dort Linux, Android, iOS oder Windows läuft. Microsoft hat durch Virtualisierung seine Installationsbasis auf theoretische 100 Prozent erweitert.

Alles wird virtuell – und erinnert damit in seiner Grundstruktur an längst vergangene Zeiten, als User an 3270-Mainframe-Monitoren saßen und darauf warteten, dass der sündhaft teure Großrechner in irgendeinem weit entfernten Service-Rechenzentrum bei seiner Stapelverarbeitung endlich auch mal beim eigenen Request angekommen war. Time Sharing nannte man das damals – und tatsächlich ist es heute im Prinzip nicht anders. Nur, dass die Zeit heute nicht mehr in Minuten sondern in Millisekunden getaktet ist.

Bei der Gelegenheit sei aber daran erinnert, dass heute der Bottleneck nicht bei den Servern, sondern bei der Leitung liegt. Deshalb: Bitte mehr Gigabit und 5G, liebe Bundesregierung!

Mit Windows 365 hat Microsoft sozusagen seinen virtuellen Schlussstein seiner Cloud-Strategie gesetzt, in deren Folge nach und nach alles dorthin verlagert wurde: die Office-Suite kommt als Office 365 ebenso aus der Wolke wie die ERP- und CRM-Suite Dynamics 365, das Komplettpaket Microsoft 365 und nicht zuletzt die Cloud-Plattform Azure selbst mit Services für Security, künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und Migrationspfade für die weitere Virtualisierung von OnPremises nach OnDemand.

Und auch Microsoft selbst virtualisiert sich selbst immer weiter. Die Zahl der weltweiten Partner, über die 90 Prozent des Microsoft-Umsatzes generiert werden, ist auf inzwischen 400.000 Unternehmen gestiegen. Dabei verändert sich die Partnerlandschaft auch strukturell. Es ist nicht mehr der produktorientierte Detailexperte, der Anwendern weltweit in die Digitalisierung und damit in die Virtualisierung hilft, sondern der Spezialist für Geschäftsprozesse, Branchen, Anwendungsfälle und digitale Zukunftsstrategien. Die schaffen aus den Lösungsangeboten ganze Ökosysteme, die mit eigenen Services zusätzlichen Value generieren. Und auch die Kunden bauen als Plattform-Betreiber eigene Ökosysteme auf und virtualisieren damit ihre eigenen Produktangebote. Deshalb krempelt Microsoft derzeit seine Partnerlandschaft und die Art und Weise um, wie ihnen Support zukommen soll.

Das mündet zum Beispiel in zusätzlichen Anreizen für Partner, aus der von Microsoft bereitgestellten Cloud-Infrastruktur neue Angebote zu entwickeln. Ein Beispiel ist der Microsoft Azure Marketplace, der – analog zu App-Shops von Google oder Apple – Entwicklern die Möglichkeit gibt, eigene Apps über eine zentrale Plattform zu vertreiben. Die Bedingungen, mit denen die Internet-Größen bis zuletzt erheblich am Erfolg von Dritt-Anwendungen partizipierten, waren unter anderem Gegenstand der Untersuchungen im US-Kongress und der Wettbewerbsbehörden. Microsoft hat jetzt den Zugang zum Azure Marketplace deutlich gelockert und die Gebühren massiv gesenkt. Es dürfte dazu beitragen, das Lösungsangebot in der nächsten Zeit explodieren zu lassen.

Die Partnerkonferenz Microsoft Inspire, die selbst Corona-bedingt erneut ausschließlich virtuell stattfand, stellt durchaus einen Wendepunkt dar. Es geht gar nicht mal so sehr um dieses oder jenes Announcement, sondern darum, dass sich die Ökosysteme rund um den gesamten Wertschöpfungszyklus von Cloud-Services und Software fundamental veränderen und von der Entwicklung bis zur Vermarktung und Anpassung immer weiter virtualisieren. Die Informationstechnik ist damit Vorreiter für nahezu alle Dienstleistungsbranchen. Aber langfristig erfasst die Virtualisierung immer weitere Wirtschaftszweige.

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