211213 Viola

Der Ziel ist das Weg

Verschwörungstheoretiker werden aufgemerkt haben, als die bei Maybrit Illner zugeschaltete Göttinger Wissenschaftlerin Viola Priesemann mit dem Erklärtext „modelliert die Ausbreitung des Coronavirus“ vorgestellt wurde. Das klingt verdächtig nach Geheimplan und Hinterzimmer. Tatsächlich aber hat die Physikerin, die sich lange mit der Dynamik neuronaler Netze und Phasenübergängen beschäftigt hatte, die frappierende Ähnlichkeit zur Ausbreitung in einer Pandemie erkannt und dazu hochwissenschaftliche Modelle entwickelt, die nicht nur das Infektionsgeschehen abschätzen können, sondern auch die Wirksamkeit der geplanten Maßnahmen. Ihr Credo: Nur wenn man sich genau über die Ziele im Klaren ist, kann man den Weg dahin definieren.

Sie rückt damit die alte konfuzianische Weisheit vom faktischen Weg, der zum (unerreichbaren) idealen Ziel führt, auf dem festen Boden der Mathematik zurecht. Wer ihren Modellen zur Ausbreitung des Virus folgen will, wer sie verstehen will, sollte sich ihren Vortrag vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft anschauen, der im Web schon mehr als 10.000mal angeklickt worden ist. Aktuell befasst sie sich mit Szenarien, die nicht das Infektionsgeschehen, sondern die Verläufe von Corona-Erkrankungen beschreiben. Das eine brechen wir runter auf die Reproduktionszahl, die unter 1 liegen muss, um eine exponentielle Ausbreitung zu vermeiden, das andere auf die Hospitalisierungsrate, die derzeit bei 0,6 liegt. Aber wenn wir die Intensivstationen nicht dauerhaft überlasten wollen, dürfte sie nur ein Sechstel des derzeitigen Werts betragen.

Das ist das Ziel. Und der Weg dorthin führt über Logistik – nämlich die Frage, wie die Impfdosen an den Oberarm gelangen. Dazu hat die Bundesregierung jetzt mit dem Bundeswehrgeneral Carsten Breuer einen Spezialisten ins Kanzleramt geholt, der nur ein Ziel hat: den Weg der Impfdosen zu organisieren. Diese Aufgabe wird nicht mit dem Impfmarathon bis Weihnachten beendet sein, sondern uns über das Jahr 2022 im Kampf gegen die Omikron-Variante weiter begleiten.

Es scheint, als habe die Politik endlich und überfällig zu evidenzbasierten Entscheidungen gefunden. Dabei sind die Zusammenhänge so komplex, dass nicht damit zu rechnen ist, dass die bisherigen Impfverweigerer sie auch tatsächlich verstehen. Deshalb kann nur eine Impfpflicht den notwendigen Erkenntniszwang bringen. Dabei nutzen gerade die Impfgegner Mechanismen, die sie dem Corona-Virus abgeguckt haben könnten: sie verbreiten ihre Ideen über soziale Netzwerke, organisieren sich in lokalen Varianten und verändern ihr Verhalten kontinuierlich, um von den Abwehrkräften nicht erkannt zu werden.

Seit zwei Jahrzehnten beschäftigen wir uns damit, wie Ideen und Produkte „viral“ gehen können, indem sie sich rapide und explosionsartig ausbreiten. Der gesamte eCommerce lebt von diesen Mechanismen. Die Verbreitung von Smartphones beispielsweise hat neue Geschwindigkeitsrekorde erreicht. Nach nur 13 Jahren seit der Vorstellung des ersten iPhones im Jahr 2008 nutzen mittlerweile 3,5 Milliarden Menschen weltweit ein Smartphone. In Deutschland sagen 72 Prozent, dass das Smartphone ihr täglich am häufigsten genutztes Gerät ist. Zum Vergleich: der Fernseher hat mehr als die doppelte Zeit benötigt, um eine vergleichbare Verbreitung zu erreichen.

Werden auch Elektrofahrzeuge irgendwann viral gehen? Könnte auch die Digitalisierung des Mittelstands irgendwann viral gehen? Die Akademie der Technikwissenschaften – acatech – hat vor einem Jahrzehnt die Transformation der (produzierenden) Unternehmen unter dem Schlagwort Industrie 4.0 ausgerufen – und diese vierte industrielle Revolution schreitet so erschreckend langsam voran, dass eher von einer industriellen Evolution die Rede sein sollte. Wann gehen wir endlich digital viral?

Es sollte eine der wichtigsten Aufgaben von Volker Wissing, dem neuen Bundesminister für Verkehr und Digitales sein, die Ausbreitung der Digitalisierungsanstrengungen in der öffentlichen Hand, in der Wirtschaft und in den privaten Haushalten wirklich voranzutreiben. Die aktuelle Pandemie zeigt uns, wie wichtig eine datenbasierte Vorgehensweise ist. Der evidenzbasierte Erkenntniszwang zieht sich wie ein roter Faden durch alle gesellschaftlichen Phänomene – und im Gesundheitswesen wird das Fehlen von Daten und Erkenntnissen gerade besonders schmerzhaft deutlich. Denn wir impfen nicht nur nicht genug – wir testen auch zu wenig. Und wir werten die Ergebnisse der Tests, der Krankheitsverläufe und der Kontakte von Infizierten nur unzureichend aus. Wir wissen zu wenig, weil wir die Daten mit unzureichenden Mitteln erfassen – wenn wir sie überhaupt erfassen.

Da stimmt es hoffnungsvoll, dass mittlerweile fast drei Viertel der Deutschen ihre traditionelle Zurückhaltung gegenüber der Weitergabe von personenbezogenen Daten aufgeben, wenn es dem Erkenntnisgewinn im Gesundheitswesen dient. Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, würden sie nicht nur Informationen über Erkrankungen einschließlich Vorerkrankungen preisgeben, sondern auch Bewegungsdaten offenlegen. Es wäre das Datenmaterial, mit dem Epidemiologen und Politiker ihre Maßnahmen genauer und gezielter orchestrieren könnten.

Und – weiter in die Zukunft gedacht – eine durch datenbasierten Erkenntnisgewinn überwundene Pandemie würde auch auf andere Bereiche ausstrahlen. Die digitale Transformation würde dann tatsächlich viral gehen. Nötig wäre es. Zu diesem Ziel sollten wir uns endlich auf den Weg machen.

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