Der Mittelstand in Deutschland gleicht einer Katze mit neun Leben – so oft ist ihm schon erfolglos der bevorstehende Tod vorhergesagt worden. Zugegeben, kleine und mittlere Unternehmen waren die letzten, die den klassischen Büroboten aufgegeben haben, jenen liebenswerten, leicht verschrobenen Mitmenschen, der das gesamte Dokumentenmanagement in seinem Aktenwagen vor sich her schob. Noch in den neunziger Jahren hat man sie vereinzelt durch die Verwaltung der Betriebe schlürfen sehen. Aber wer so lange gezögert hat, hat immerhin eine Reihe von Innovationen in der Büroautomatisierung einfach übersprungen, die jeweils als das Non-Plus-Ultra galten: Rohrpost, Microfiche, Datex P und – ja sogar ISDN. Nur das Fax überlebt – sozusagen als Bürobote 2.0.
Anders lief es beim Management der Fertigungsprozesse, weil dort der unmittelbare Nutzen sofort zu erkennen war – vor allem in den Bilanzen: von der Material-Bedarfsplanung über Produktionsplanung und –steuerung und Enterprise Resource Planning bis zu Electronic Data Interchange und Global Marketplaces zogen die Mittelständler getreulich mit, was ihre globalen Geschäftspartner ihnen vorgaben. Das hatte auch seinen Grund darin, dass mittelständische Unternehmen nur so ihren Platz in den globalen Lieferketten behalten konnten. Insofern war der Mittelstand auch hier eher Getriebener als Treiber.
Das scheint heute in Sachen Digitalisierung nicht anders zu verlaufen. Die von der Akademie der Wissenschaften ausgerufene „Vierte Industrielle Revolution“ – oder „Industrie 4.0“ – fand lange Zeit im Mittelstand keinen großen Widerhall. Erst hatte man wegen der vollen Auftragsbücher keine Zeit für sowas, dann kein Geld. Dann kam Corona und die digitale Revolution kam durch die Haustür ins Homeoffice. Und mit Lösungen zur Zusammenarbeit auch über räumliche Trennung hinweg wurden nicht nur Leben gerettet, sondern das Überleben ganzer Branchen gesichert.
Es ist bemerkenswert, wie schnell mittelständische Unternehmen reagieren können, wenn sie müssen. Darin schlagen sie ihre globalen Partner und erst recht die Öffentliche Verwaltung um Längen. Das zeigt sich jetzt – im dritten Pandemie-Jahr – auch mit Blick auf die vulnerablen Lieferketten. Neue Bezugsquellen, alternative Lieferwege, Online-Bestellungen und intensivierte Kundenkommunikation – all das steht inzwischen bei mittelständischen Managern ganz oben auf der Agenda. 60 Prozent der befragten mittelständischen Manager sagen dies. Oder sollte man sagen: doch nur 60 Prozent?
Denn die Corona-Wellen schlagen immer schneller zu. Es wäre gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass nach der fünften, der Omikron-Welle, nicht doch noch eine sechste auftaucht. Mittelstandsforscher sehen eine Corona-Entlastung für den Mittelstand ab Sommer 2022. Doch ist zu befürchten, dass nicht alle kleinen und mittleren Unternehmen dieses Licht am Ende des Tunnels noch sehen werden. Die Bundesregierung hat im Dezember zügig die Mittelstandsbeihilfen erneuert, so dass die größte Not gemildert scheint.
Und schon kommt die nächste Herausforderung: der innovationsgetriebene Kampf gegen den Klimawandel. Er wird nicht nur die Lieferketten beeinflussen, in denen die Partner ihren Nachhaltigkeits-Nachweis erbringen müssen. Er wird unmittelbar die bestehenden Geschäftsprozesse verändern – schon allein durch die CO2-Bepreisung, die künftig auch an EU-Grenzen für Importe erhoben werden soll. Da rechnet es sich womöglich künftig, Produktionsprozesse wieder in die Europäische Union, wenn nicht nach Deutschland zurückzuholen.
Und ein zweiter Punkt wird die Innovationskraft im Mittelstand fordern: der Mittelstand, besonders die Familienunternehmen, sind stark in ihrer Region verbunden. Schon jetzt haben vor allem die im Familienbesitz befindlichen Unternehmen Nachhaltigkeits-Projekte angestoßen. Es könnte – bei aller Globalisierung – eine Klima-Innovation aus der Region heraus nach sich ziehen. Das wäre dann eine wahrhaft fünfte industrielle Revolution – ausgerechnet eingeleitet von den nachhaltigen Nachzüglern im Mittelstand.