220314 Lieferkette

Hätte, hätte, Lieferkette

Der Ukraine-Krieg – oder um es unmissverständlich zu formulieren: der völkerrechtswidrige, menschenverachtende, durch Russlands irrlichternden Diktator Wladimir Putin veranlasste Überfall auf die Ukraine – hat wie unter einem Mikroskop die großen Menschheitsherausforderungen im Detail erkennbar gemacht. Plötzlich findet eine mögliche Abkehr von Erdöl, Erdgas und Steinkohle deutliche Mehrheiten. Was mehrere Weltklimakonferenzen nicht schafften, bewirkt nun die Erkenntnis, dass Russlands Energielieferungen auch Krieg und Kleptokratie befördern: ein wahres Wunder im Umdenken und in der Bereitschaft, nun das Notwendige einzuleiten.

Eben hat mit Fitch die letzte große Ratingagentur die Bonität des russischen Staates auf Schrottniveau herabgesenkt, da sollen auch die russischen Energieeinnahmen aus dem Westen von einer Milliarde Euro täglich auf Null gesenkt werden. Die Mehrheit der Deutschen wünscht es laut Politbarometer so, obwohl sie die Zeche an der Tankstelle zahlt. Doch die Mehrheit der mittelständischen Wirtschaft bangt um ihre Existenz, weil sie die Zeche in praktisch jedem Geschäftsprozess bezahlen muss – vom Einkauf teurer Rohstoffe über die energieintensive Produktion bis zum dieselgetriebenen Transport.

Jetzt wird teuer, was jahrelang verschleppt wurde. Der Strompreis stieg im vergangenen halben Jahr um 160 Prozent, der Gaspreis um 235 Prozent und das Barrel Öl der Marke Brent um 66 Prozent – und wir können uns nicht dagegen wehren. „Wenn das derzeitige Energiepreisniveau länger andauert, dann habe ich sicher keine Chance mehr“, sagt der trigema-Chef Wolfgang Grupp und spricht damit sicherlich für alle mittelständischen Unternehmen – zumindest aus den energieintensiven Branchen wie zum Beispiel der Chemie-, Metall- oder Papierproduktion. Grupps Rechnung ist in der Tat alarmierend: Bis zum August, so rechnet er dem Handelsblatt vor, hatte er eine monatliche Energierechnung von 100.000 Euro zu bezahlen. Jetzt sind es 500.000 Euro – im Monat.

Doch woher soll die Entlastung kommen? Alternative Energiequellen sind weder schnell noch günstig zu erschließen. Der Widerstand gegen die „Verspargelung der Landschaft“ durch Windräder und künstlich herbeigeführte Bürokratiehürden wie zum Beispiel kaum umsetzbare Abstandsregeln und langwierige Genehmigungsverfahren haben den Ausbau der Erneuerbaren verschleppt. Gut 40 Prozent des deutschen Energiebedarfs wird durch Wind, Sonne und Wasser gedeckt. Der Rest ist fossilen Ursprungs und ist, da überwiegend importiert, ein Spielball der Weltpolitik.

Schon fordert ein wahlkämpfender Ministerpräsident die Entlastung der tankenden Bevölkerung, weil sich weder die „Geringverdienenden“, noch die „fleißig Arbeitenden“ die aktuellen Spritpreise leisten können. Die unselige Differenzierung stammt nicht vom Autor dieser Zeilen, sondern vom Landeschef selbst und wird nicht weiter kommentiert. Immerhin, so heißt es, verdiene der Staat durch erheblich gestiegene Steuereinnahmen an der Tankstelle mit. Dem widerspricht Bundesfinanzminister Christian Lindner. Die höheren Steuereinnahmen hier werden durch geringeres Konsumverhalten anderswo wieder ausgeglichen – ein Nullsummenspiel.

Nicht viel anders liefe es bei der durchaus notwendigen Entlastung der Wirtschaft. Eine Deckelung der Energiekosten würde aus einem unvermeidlichen weiteren Sondervermögen gegenfinanziert werden müssen. Der Verzicht auf Energie- und Mehrwertsteuer würde auch hier zu einem erheblichen Verlust bei den Steuereinnahmen führen und den Handlungsspielraum des Staates einengen. Der Verlust von Arbeitsplätzen oder die Stilllegung von Betriebsstätten aber wäre noch teurer. Jetzt muss also irgendwie überbrückt werden, was jahrelang versäumt wurde.

Denn fossile Energie, ob aus Russland oder anderswo, war lange Zeit alternativlos. Jetzt, angesichts der kriegs- und krisenbedingten Teuerung, geht die Suche nach Alternativen los. jetzt soll alles schnell gehen mit der großen Entkopplung von russischer Energie: Fracking ist dreckig, der Krieg aber ist dreckiger. Öl- und Gasbohrungen in Ost- und Nordsee sind plötzlich für den Bundesfinanzminister wieder denkbar, obwohl es im Koalitionsvertrag anders steht. Andere schlagen vor, die letzten drei Atommeiler länger in Betrieb zu lassen, obwohl die Beschaffung von spaltbarem Material nicht innerhalb eines Jahres zu bewerkstelligen wäre. Und eine Gruppe von 45 Gasnetzbetreibern will jetzt die deutschen Rohrleitungen für den Wasserstofftransport umrüsten, um eine Lieferinfrastruktur aufzubauen, auf der die Wasserstoffelektrolyse und damit die Energiegewinnung aufbauen können. Doch auch der Import von „grünem“ oder zumindest „blauem“ Wasserstoff ist alles andere als geklärt.

Dabei ist die Suche nach alternativen Energiequellen oder zumindest alternativen Quellen für fossile Energie nur das derzeit brennendste Beispiel für die Abhängigkeit der deutschen Industrie von internationalen Lieferketten, deren Gestalt und Gestaltung sie längst nicht mehr in den Händen hat. Die inzwischen schon sprichwörtlichen Kabelbäume aus der Ukraine und anderen Ländern, die weitgehend in Handarbeit für einen Billiglohn erstellt werden, zeigen, wie verletzlich die deutsche Wirtschaft inzwischen ist. Dieses Risiko haben wir sehenden Auges herbeigeführt, weil ein veritabler Krieg ebenso fern hinter unserem geistigen Horizont lag wie der Klimawandel.

Der Schrecken einer Abhängigkeit von russischer Willkür ist offensichtlich inzwischen größer als der Schrecken vor hohen Abschlägen, sollte der wirtschaftliche Abschied von Russland gelingen. Längst ist der Krieg als Cyber-War global geworden und bedroht auch mittelständische Unternehmen hierzulande. Die Angst vor ABC-Waffen hat längst mit D für Digital-Waffen aus Russland eine vierte Dimension erlangt, wie der Hightech-Verband Bitkom ebenso wie Microsoft warnen.

Doch was ist nach Krieg und Krise? Irgendwann werden die wirtschaftlichen Beziehungen mit einem wie auch immer gearteten Russland wieder aufleben. Die Sanktionen werden fallen, sobald der Grund für ihre Verhängung entfällt. Werden dann die alten Lieferketten wieder geknüpft und die Abhängigkeit erneuert. Lernen wir aus Krise, Krieg und Klima oder heißt es irgendwann wieder: hätte, hätte, Lieferkette?

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