Es gibt mal wieder Anlass, den Kopf zu schütteln über die Zustände „in diesem, unseren Lande“, um eine Floskel des verstorbenen Bundeskanzlers Helmut Kohl zu verwenden. Der wusste ja bekanntlich nicht zwischen Bundesautobahnen und Datenautobahnen zu unterscheiden – was heutzutage auch nicht mehr möglich ist, weil beide gleichermaßen in einem schlechteren Zustand sind als im europäischen Vergleich. Noch bedenklicher ist aber, dass nach dem aktuellen Bericht der EU-Kommission über den digitalen Fortschritt in Wirtschaft und Gesellschaft gerade mal die Hälfte der Bundesbürger über digitale Grundkenntnisse verfügt. EU-weit sind es durchschnittlich 54 Prozent – auch nicht gut, aber immerhin besser.
Überhaupt „digitale Grundkenntnisse“: Dazu gehören laut Kommissionsbericht Fähigkeiten wie das Lesen von Online-Nachrichtenseiten, die Suche nach Informationen im Netz oder die Überprüfung von Quellen. Das ist Klötzchen-Niveau! Zu den digitalen Grundkenntnissen sollte eher das Basisverständnis gehören, wie Tastatur, Hauptspeicher, Festplatte und Monitor miteinander kooperieren, oder wie – wenn schon nicht das Programmieren selbst – dann wenigsten die Individualisierung von Anwendungen mit Hilfe von „No Code / Low Code“ funktioniert. Aber das scheint nach dem Verständnis der EU-Kommission bereits ebenso zum Fachwissen zu gehören wie das Wissen über Gefahrenpotenziale im Internet. Hier sind Wirtschaft und öffentliche Hand offensichtlich derzeit nur „bedingt abwehrbereit“.
Da klafft eine Bildungslücke vom Ausmaß einer Schlucht. Sie wirft einen Schatten über das wahre, verheerende Ausmaß des digitalen Fachkräftemangels vor allem in mittelständischen Unternehmen. Die Arbeitskräfte, die das Internet seit 1969 live haben entstehen sehen, sind schon in Rente, die Generation WWW hat bereits die Frührente im Visier. Dass die Jüngeren, die mit den digitalen Technologien aufgewachsen sind, nicht über bessere digitale Kenntnisse verfügen, lässt einen geradezu verzweifeln. Soviel Bildungsnotstand war nie – und auch hier sind wir nur „bedingt abwehrbereit“.
Dabei können wir uns einen Bildungsnotstand weder bei grundlegenden Lese- und Schreibkenntnissen noch in den vier Grundrechenarten oder eben bei digitaler Kompetenz überhaupt nicht leisten. Unsere wirtschaftliche – und wohl auch intellektuelle – Zukunft hängt davon ab. Wenn im Mittelstand die digitale Visionskraft vermisst wird, dann offensichtlich wohl auch, weil mangels digitaler Grundkenntnisse die Vorstellungskraft für neue Geschäftsmodelle und digitale Prozesse fehlt.
Doch die Vorteile gerade in diesen krisengeschüttelten Zeiten sind kaum zu übersehen, wie eine weitere aktuelle Studie über die Resilienz von Unternehmen beweist. Wer früh in digitale Prozesse investiert hat, kann schneller auf neue Märkte und neue Produktangebote ausweichen, kann flexibler auf unterbrochene Lieferketten reagieren und nach Lockdowns, Sanktionen und Homeoffice die eigenen Prozesse schneller wieder hochfahren. Wer in seiner „listenreichen“ Vergangenheit verharrt, reagiert auf Veränderungen dagegen in der Regel zu spät, zu langsam und ist auch hier gegenüber Krisen nur „bedingt abwehrbereit“.
Das ist bei weitem kein Phänomen, das auf den Mittelstand beschränkt ist. Wie wenig stressresistent Deutschlands digitale Infrastruktur ist, konnte man jetzt am Zustand der „elektronischen Steuerklärung“ – Elster – beobachten, die erst nur langsam und eingeschränkt funktionierte, dann aber ganz vom Netz genommen werden musste. Der Grund: die Neuregelung der Grundsteuer für Wohnungen, Häuser und Grundstücke, die Eigentümer dazu verpflichtet, eine neue Grundsteuererklärung abzugeben. Zu viele Bundesbürger wollten offensichtlich gleichzeitig Dokumente up- oder downloaden…
Eine stressresistente und resiliente digitale Infrastruktur ist denn auch das Ziel des 30 Seiten umfassenden Entwurfs einer Digitalstrategie der Bundesregierung, die „ambitionierte und überprüfbare Ziele setzen sowie realistische und schnell spürbare Maßnahmen“ ermöglichen soll, wie es schon im Koalitionsvertrag heißt. Doch das erste Ziel ist schon gerissen: der Entwurf sollte eigentlich noch vor der Sommerpause im Kabinett beschlossen werden. Jetzt geht man erst einmal in die Sommerfrische. Digital kann warten.
Aber eigentlich gibt es auch gar nichts zu befinden, weil der Entwurf nur vage Absichtserklärungen enthält. „Wir wollen uns 2025 daran messen lassen, ob sich der Digitalisierungsgrad des deutschen Mittelstandes signifikant verbessert hat“ oder „ob die Cybersicherheitsstrategie weiterentwickelt ist und Fortschritte bei der Modernisierung der staatlichen Netzinfrastrukturen erzielt wurden.“ So schwammig lauten derzeit die angeblich überprüfbaren Ziele. Noch auf der Digitalkonferenz re publica hatte Bundesverkehrsminister Volker Wissing, der im Nebenjob auch für das Digitale zuständig ist, gemeint, da müsse noch „mehr Butter bei die Fische“. Konkreter ist er aber auch nicht geworden. Der Hightech-Verband Bitkom kann da auch nur noch lakonisch reagieren und meint zum „dünnen“ Entwurf, hier müsse „mehr als nur nachgeschärft werden“. Setzen Sechs!
Derweil digitalisieren wir weiter auf Sicht und ohne Kompass. Wie gefährlich das sein kann, beweist die Studie über Gefährdungen aus dem Cyberraum, die jetzt gerade für mittelständische Unternehmen eine besondere Gefahrenlage offenlegt. Die Gefahr ist deshalb hoch, weil das Gefährdungspotential durch Angriffe aus dem digitalen Raum nach wie vor völlig unterschätzt wird. 69,5 Prozent der von CyberDirekt für die Studie „Risikolage 2022“ befragten mittelständischen Unternehmen fühlen sich aktuell nicht von einem Cyber-Angriff bedroht.
Das passt: Denn nur 26,6 Prozent der Befragten gaben an, innerhalb der letzten zwei Jahre Opfer eines Cyber-Angriffs geworden zu sein. Besonders hoch ist die Zahl unter den IT-Unternehmen mit 40,5 Prozent, eher gering ist sie bei Unternehmen der Dienstleistungsbranche mit 16,7 Prozent. Die Dunkelziffer dürfte freilich deutlich höher liegen. Denn noch gilt es als Tabu, Opfer von Hacker-Angriffen gewesen zu sein. Doch auch das Gefahrenbewusstsein gehört übrigens zu den digitalen Grundkenntnissen, bei dem es offensichtlich Nachholbedarf gibt. Wenn sich das nicht ändert, bleibt unsere Wirtschaft auch hier nur „bedingt abwehrbereit“.