221010 Industriebrache

Abbauen oder abhauen?

Früher war alles besser. Sogar die Krisen waren besser – oder zumindest fairer: Sie wechselten sich ab und gewährten Wirtschaft und Gesellschaft zwischendurch eine Auszeit zur Erholung – oder wie man jetzt sagt: zur Resilienz. Im 21. Jahrhundert kommen die Krisen lediglich zeitversetzt, türmen sich dann aber auf und führen zu multiplen Herausforderungen. Wie sehr sich alles verdichtet, zeigt eine kleine Auflistung: Dotcom-Blase 2000, Finanzkrise 2008, Schuldenkrise 2011, Krimkrise 2014, Flüchtlingskrise seit 2015, Brexit seit 2017, Corona-Krise seit 2020, Lieferkettenkrise seit 2021, Energiekrise seit 2022 und über allem die Klimakrise, die sich kontinuierlich verschärft.

Es ist praktisch unmöglich, in diesen Zeiten eine tragfähige Zukunftsperspektive zu entwickeln – das gilt für unternehmerische Visionen ebenso wie für die individuelle Lebensplanung. Soll man die Produktion drosseln, weil die Energiekosten jeden Gewinn auffressen? Soll man Konsumzurückhaltung üben, weil die Inflation inzwischen zehn Prozent erreicht hat? Soll man alternative Rohstoffquellen suchen, weil die bewährten Lieferketten nicht mehr funktionieren? Soll man Kerzen, Mineralwasser und Toilettenpapier auf Vorrat einkaufen, weil der Winter dunkel und kalt zu werden droht?

Europaweit ist der Wohlstand in Gefahr – das gilt für die Briten, die ihre Mangelwirtschaft durch den EU-Austritt selbst forciert haben, ebenso wie für die Russen, deren Gesellschaftsleben durch Kriegssanktionen und Teilmobilmachung ins Wanken gerät. Und es gilt für die deutsche Bevölkerung auf ganz besondere Weise, weil der Wohlstand hierzulande auch an dem vergleichsweise hohen Grad der Industrialisierung in der Wertschöpfung hängt. Denn das jetzige Krisengemenge könnte das Ende des „Geschäftsmodells Made in Germany“ sein. Betriebe stehen vor der Wahl: Produktion abbauen oder abhauen – zum Beispiel zu Auslandsstandorten, an denen man noch zu erträglichen Wettbewerbsbedingungen Waren herstellen kann.

Das Gespenst der Deindustrialisierung hat – nach langem Widerstand in der deutschen Wirtschaft – nun auch unser Land erreicht. Andere westliche Wohlstandsnationen haben den Weg raus aus der industriellen Fertigung längst vollzogen und ihr Heil im Dienstleistungssektor gesucht. Allen voran die Briten, die seit der Thatcher-Ära das Produzieren verlernt zu haben scheinen: Britannia rules the world of Finance – und ist dadurch inzwischen anfällig geworden für Krisen wie kaum ein anderes Land der westlichen Welt.

Aber die Zahlen zeigen ein eindeutiges Bild. Unter den wirtschaftsstarken Nationen haben nur noch China und Russland einen höheren Industrialisierungsanteil an der Wertschöpfung als Deutschland, der derzeit bei rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. In Frankreich (16 Prozent), Großbritannien und den USA (17 Prozent) liegt er deutlich niedriger. Doch der schleichende Exodus der Industrieproduktion ins Ausland hat auch hier längst eingesetzt. Kamen 1990 noch nur rund zehn Prozent der Waren aus dem Ausland auf den deutschen Markt, sind es im vergangenen Jahr schon knapp ein Viertel gewesen. Wenn sich die Betriebe jetzt fürs langfristige Auslagern entscheiden, dürfte sich diese Entwicklung beschleunigen.

Dabei hatten wir noch mitten in der Corona-Pandemie die schmerzhaften Lehren aus zuviel Outsourcing und Offshoring gezogen, als die Lieferketten zusammenbrachen und sich bis heute – insbesondere durch die Zero-Covid-Strategie in China – nicht erholt haben. Und wir haben auch feststellen müssen, wie gefährlich es sein kann, wichtige Industriezweige, Kernprozesse und Knowhow erst zu verlagern und dann zu verlieren. Von der Pharmaproduktion über die Solarenergie bis zur Batteriefertigung hat die Deindustrialisierung immer das gleiche Ergebnis gezeitigt: Abhängigkeit von Dritten.

In die Abhängigkeit ist Deutschlands Wirtschaft allerdings ohne es sich jemals richtig einzugestehen, auch zuvor schon geraten. Denn die energieintensiven Industrien mussten immer schon zukaufen, wenn sie wettbewerbsfähig sein wollten. Auf die heimische Kohle folgten Kohleimporte, auf die Erdölimporte folgte der Ölpreisschock – und auf das Russengas folgte der Energiekrieg. Das „Geschäftsmodell Made in Germany“ war immer schon am Tropf der internationalen Energielieferanten. Jetzt soll grüner Wasserstoff aus Nahost und Kanada langfristig den Ausweg weisen. Auch das wäre eine Abhängigkeit – aber sie würde deutsche Industriearbeitsplätze sichern.

Ohnehin dürfte der Schritt ins Ausland den internationalen Konzernen leichter fallen als den an die eigene Region emotional und personell gebundenen mittelständischen Familienunternehmen. Doch angesichts der galoppierenden Energiekosten bliebe ihnen nur die Cholera statt der Pest – nämlich Abbauen statt Abhauen. Auch das führte dann in die Deindustrialisierung.

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