221024 Weniger

Mehr durch Weniger

Cyril Northcote Parkinsons erstes Gesetz von der Arbeit, die sich proportional zur Zeit ausdehnt, die für sie zur Verfügung steht, klingt wie die Leitplanken, an denen der Wirtschaftsstandort Deutschland seit Jahrzehnten vorbeihangelt. Nur, dass hierzulande sich die Erledigung der Arbeiten noch über das Zeitmaß hinaus verzögert. Ob die Fertigstellung des Berliner Flughafens immer wieder verschoben wurde oder der Abbau der Bürokratie ebenso schleppend vor sich geht wie der Aufbau einer digitalisierten Welt – immer wieder werden Ressourcen wie Zeit und Geld, Geist und Geduld nachgeschoben, ohne dass wir uns den gesteckten Zielen auch nur nähern. Gaia-X, die souveräne Datencloud, macht da ebenso wenig eine Ausnahme wie der Umbau der Energiewirtschaft oder der Ausbau der 5G-Netze.

Weniger bekannt ist Parkinsons zweites Gesetz – auch Trägheitsgesetz genannt: „Verzögerung ist die tödlichste Form der Verweigerung.“ Doch diese soziologische These feiert bedauerlicherweise in den Kernbereichen der deutschen Industrie fröhliche Urstände. Sie verweigert seit Jahren die digitale Transformation in praktisch jeder Daseinsform: die Automobilindustrie verschläft die Elektromobilität und die Mobilitätswende, die Photovoltaikbranche verpennt die Energiewende, die Pharmaindustrie übersieht – mit Ausnahme des Startups BioNTech – die Pandemien. Und der Mittelstand beharrt auf seinen überkommenen Geschäftsmodellen, weil – wie der Österreichische Philosoph Martin Buber postulierte – man alles ändern müsste, wenn man etwas ändern will.

Die Langsamen bremsen die Schnellen. Das spürt sogar die deutsche SAP, die in ihrem 50. Jahr der Existenz in Sachen Innovation ohnehin eher einer Schildkröte als einem Hasen gleicht. Ihre Kunden gehen den Weg in die Cloud nur äußerst zögerlich und verlängern damit das Tal der Tränen, durch das SAP hindurchmuss, wenn es vom klassischen Lizenzmodell zum Mietmodell wechseln will. Und gleichzeitig wollen die großen Kunden auch nicht mehr endlos in den Moloch der SAP-Anwendungen investieren, die sich längst im Dschungel ihrer Algorithmen als hinderlich auf dem Weg in die digitale Runderneuerung erweisen.

Inzwischen entwickeln sich die US-amerikanischen und chinesischen Tech-Konzerne in einer Geschwindigkeit weiter, mit der die Abnehmer ihrer Produkte – zum Beispiel der deutsche Mittelstand – praktisch nicht mehr mithalten können. Frappierend deutlich wurde das auf der jüngsten Entwickler-Konferenz von Microsoft, auf der mehr als 100 Weiterentwicklungen der Lösungsplattformen von Azure bis Windows vorgestellt wurden. Allen voran sind es Lösungen der künstlichen Intelligenz, die sich hinter diesen Plattformen verbergen, die ein technisches Innovationstempo mit sich bringen, das jedem mittelständischen IT-Spezialisten den Atem rauben muss, der zwischen Cyber-Security und Kundenbeziehungsmanagement gar keine Zeit mehr findet für die Weiterqualifizierung im – zum Beispiel – Metaversum. Man möchte meinen, weniger Innovation wäre mehr Fortschritt.

Im Ergebnis lebt Parkinsons zweites Gesetz weiter – und die Verweigerung der technischen Innovation führt zur Gefährdung der eigenen wirtschaftlichen Existenz in Zeiten der sich überlappenden Krisen. Und es scheint, als gäbe es daraus keinen Ausweg. Denn je komplexer die digitale Welt und ihre Lösungsangebote werden, desto schmerzhafter wirkt sich der Fachkräftemangel im Bereich der Informationstechnik aus. Es fehlt an Menschen, die aus den Angeboten Visionen kreieren. Und erst recht an Menschen, die diese Visionen in zukunftsweisende Digitalstrategien umsetzen. Und der einfache Anwender ist froh, nicht weiter dazulernen zu müssen.

Doch es gibt Hoffnung – und sie besteht gerade im Weniger als im Mehr. Es ist abzusehen, dass die Gestaltung der Wirtschaft und der sie tragenden Geschäftsmodelle wieder in die Hände der Prozess-Owner und Stakeholder gegeben wird, die mit ihrem Branchenwissen und ihrer Erfahrung den Laden bisher auch ohne digitale Transformation am Laufen hielten. Und es sind ausgerechnet Elemente der künstlichen Intelligenz, die dabei helfen werden. Immer seltener benötigen Anwendungsentwickler tatsächlich Informatik- oder Programmierkenntnisse, wenn sie einen Prozess digital gestalten wollen. Immer mehr Entwicklungsumgebungen versprechen Gestaltungsmöglichkeiten durch Low-Code oder gar No-Code. Ein Click, ein Drop reichen aus, um Beziehungen zwischen Objekten zu „programmieren“ und damit Prozessschritte an Prozessschritte zu reihen. Niemand dürfte dazu besser geeignet sein als der agile Facharbeiter, der Wirtschaftsingenieur oder Betriebswirt. Käme es dazu, gäbe es keine Entschuldigung für die Trägheit.

Dann ließe sich Mehr durch Weniger erzielen. Die Planer bei Microsoft scheinen das zu ahnen – denn unter genau diesem Motto haben sie in diesem Jahr ihre Entwicklerkonferenz ausgerichtet. SAP, pass auf!

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