„Herr, es ist Zeit: Der Sommer war sehr groß“, so beginnt Rainer Maria Rilke sein Gedicht „Herbsttag“. Und in der Tat: der sonnenreiche, „große“ Sommer hat erheblich dazu beigetragen, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Energiemix deutlich gestiegen ist. Nach den Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme haben sie bis Mitte November zusammen einen Anteil von gut 38 Prozent an der Einspeisung ins öffentliche Stromnetz gehabt. Rechnet man die vor allem aus eigenen Gaskraftwerken für den Eigenbedarf produzierte Energiemenge der Wirtschaft hinzu, reduziert sich der Anteil der Erneuerbaren auf immerhin noch beachtlich 34 Prozent – also gut ein Drittel des Gesamtbedarfs.
Der Wettergott ist also offensichtlich nicht auf Russlands Seite – sonst würde er dem Westen nicht die Gelegenheit gegeben haben, die Gasspeicher in dem sich an den großen Sommer anschließenden milden Herbst praktisch vollständig aufzufüllen. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte aber ist: Deutschlands Energieverbrauch wird zwar 2022 voraussichtlich etwas zurückgehen und 2,7 Prozent unter dem des Vorjahres liegen – doch ein stärkerer Rückgang wäre möglich gewesen. Vor allem im Verkehrssektor hat der Spritbedarf zugelegt und damit einen geringeren Energieverbrauch der Gesamtwirtschaft verhindert. Und: 84,1 Millionen Menschen leben inzwischen in Deutschland, was den Energieverbrauch im privaten Sektor trotz deutlich sparsamerer Haushaltung erhöht hat.
Dass der Energieverbrauch dennoch sinken konnte, ist vor allem den Investitionen der Wirtschaft in alternative Energiequellen und erhöhte Energieeffizienz zu verdanken. Allen Unkenrufen zum Trotz hat vor allem der deutsche Mittelstand nicht wie das Kaninchen auf die leere Gas-Pipeline gestarrt, sondern gehandelt. Doch waren es nicht nur Investitionen, sondern auch der Rückgang von Produktion hierzulande und die Verlagerung der Fertigung ins Ausland, die zum geringeren Energiebedarf geführt haben.
Und doch bleibt der Würgegriff der historisch hohen Energiepreise für viele Handwerksbetriebe und mittlere Unternehmen bis weit ins kommende Jahr bestehen. Langfristig halten das im Zweifel nicht alle kleinen und mittelständischen Unternehmen aus. Geschäftsaufgaben, Geschäftsverlagerungen, Entlassungen und Kurzarbeit drohen deshalb weiterhin. Und die ebenfalls historisch hohe Inflationsrate führt dazu, dass auch im Einkauf der Rohstoffe und Halbfertigwaren die Kosten den Gewinn auffressen. Für viele Unternehmen im Mittelstand kommt die für März – möglicherweise Februar – geplante Gaspreisbremse wahrscheinlich zu spät. Und auch die nächsten Maßnahmen der Europäischen Zentralbank gegen die galoppierende Inflation könnten zu spät greifen. Viele mittelständische Unternehmen werden auf die Intensivstation verlegt, wo Banken und Bundesregierung Sofortmaßnahmen einleiten müssten, weil sonst ein multiples Organversagen droht, das tödlich enden könnte.
Und auch wenn Bundesregierung, EZB und Wirtschaft sowohl die Energiekrise und als auch die Inflation mittelfristig in den Griff bekommen sollten – die Engpässe in den Lieferketten werden anhalten, weil sie andere Ursachen haben. Das liegt einerseits an der Null-Covid-Strategie der Chinesen, andererseits an der aberwitzigen Situation, dass es für den internationalen Warenverkehr nicht genügend Schiffe gibt. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts im September dieses Jahres sind durchschnittlich fast zwei Drittel der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe von einer Knappheit von Vorprodukten betroffen. Drei Viertel sehen die Lieferketten inzwischen als kritisches Organversagen.
Das alles könnte sich auch dann als lebensbedrohlich erweisen, wenn auch der Winter milde ausfiel. Für fast die Hälfte der Unternehmen haben sich die Preise inzwischen verdoppelt, für ein knappes Drittel sogar verdreifacht. Daran wird sich sobald nichts ändern. Die Folgen sind weiteres Organversagen: Um die Krise zu bewältigen, denken viele Unternehmen an Personalkürzungen, geplante Investitionen müssen gestoppt oder verschoben werden und einige Unternehmen werden auch ins Ausland gehen, um in der Krise nicht unterzugehen. Für einige wird sich die Produktion auch gar nicht mehr lohnen.
Es herrscht Endzeitstimmung angesichts des drohenden multiplen Organversagens. Sie findet sich auch in Rilkes „Herbsttag“, wo es in der letzten Strophe heißt; „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“