Ehe ich missverstanden werde: dies ist kein Blog gegen den Braunkohleabbau, sondern ein Blog für den Bürokratieabbau. Aber die Rigorosität, mit der gegen den Hambacher Forst und jetzt gegen die Ortschaft Lützerath vorgegangen wird, wäre endlich, endlich auch einmal für den Abbau alter Strukturen in der Verwaltung vonnöten. Warum schaffen wir es, gewachsene Gemeinschaften wie Immerath, Königshoven, Garzweiler, Pesch oder Elfgen im sogenannten rheinischen Braunkohlerevier abzutragen, während es uns gleichzeitig nicht gelingt, die verkrusteten Strukturen in der Verwaltung abzutragen, die uns daran hindern, ein moderner, agiler und effektiver Staat zu werden. Dabei ist der Ertrag, der sich aus den darunterliegenden Braunkohle-Reservoirs für den Staat ergibt, wohl kaum größer als der Ertrag, der sich durch den Abbau der bürokratischen Hemmnisse eröffnen könnte.
Eine erste Erklärung wäre: Den physisch umgesiedelten Bürgern werden ihre Wurzeln gezogen und dafür erhalten sie eine Entschädigung. Die gedanklich umzusiedelnden Verwaltungsbeamten erhalten keine Entschädigung dafür, dass sie einen neuen, attraktiveren und inhaltsvolleren Arbeitsplatz erhalten. Klingt komisch, ist aber so.
Was also, wenn in deutschen Amtsstuben endlich einmal der Abraumbagger anrollte? Wir haben zwei Jahrzehnte der Bemühungen um diesen großflächigen Tagebau in der Verwaltung hinter uns, haben sogar einen – mittelmäßig erfolgreichen – ehemaligen Ministerpräsidenten nach Brüssel geschickt, um den Bürokratieabbau auf europäischer Ebene zu minimieren… Als wäre ausgerechnet Brüssel die erste Adresse für die Verringerung von Überregulierung, Maßregelung und Sanktionierung! Der Amtsschimmel ist nach dem Slowresponsosaurus, wonach Antworten aus der Verwaltung frühestens erst nach einem Monat erfolgen, wohl das am stärksten resistente Lebewesen auf diesem Planeten – and beyond!
Für 58 Prozent der befragten Unternehmen einer BDI-Umfrage im industriellen Mittelstand ist der Abbau unnötiger Bürokratie für die aktuelle Krisenbewältigung von zentraler Bedeutung. Man könnte sagen, dass eine Gaspreisbremse kaum dringender sein könnte als eine Bürokratiebremse – aber dazu fehlt in praktisch allen europäischen Amtsstuben der Wille, das Vermögen und die Fähigkeit, sich einmal neben sich zu stellen, um Prozesse aus einem anderen Winkel zu betrachten – zum Beispiel aus Kunden- oder Klientensicht.
Aber weniger Melde-, Berichts- und Dokumentationspflichten schaffen mehr personelle, finanzielle und sachliche Ressourcen in Unternehmen. Gefragt sind politischer Wille und Pragmatismus in der gesamten Bundesregierung und im Bundestag, meint der BDI und liefert konkret 50 Verbesserungsvorschläge. Man kann das BDI-Papier „Bürokratie abbauen – Unternehmen entlasten“ downloaden unter https://bdi.eu/publikation/news/buerokratie-abbauen-unternehmen-entlasten/.
Es ist ehrenwert und geradezu rührend, wenn der BDI hier 50 der absolut naheliegendsten Maßnahmen zusammenfasst, die eigentlich bei klarem Verstand jedem Organisationsleiter von selbst in den Kopf kommen sollten.
Übrigens ist es keineswegs so, dass die Digitalisierung gleichbedeutend ist mit der Entbürokratisierung. Leider ganz im Gegenteil ist es dem Amtsschimmel zwischen Nullen und Einsen noch viel leichter möglich, fröhlich zu wiehern, als im altbekannten analogen Stall.
Denn angefangen bei der milliardenschweren Fehlinvestition in eine bundesweit einheitliche Infrastruktur für das Finanzwesen, bei dem wir noch heute darauf warten, dass die Steuernummer und die IBAN einer Person miteinander verknüpft werden, bis zur Gebäude- und Wohnungszählung 2022 erleben wir immer noch analoge Urstände im digitalen Neuland. Erstes könnte dazu führen, dass künftig Entlastungen nicht per Gießkanne, sondern minimal invasiv und personenbezogen geleistet werden könnten – übrigens ganz ohne bürokratischen Überbau, der die Hälfte der Leistungen in sich selbst auffressen würde. Dass es, laut Bundesfinanzminister Christian Lindner, 18 Monate dauern würde, bis die Aufgabe gelöst ist, stellt keinen Grund dar, es nicht schon längst begonnen zu haben. Auch in 18 Monaten gibt es sicher einen Anlass für das personengenaue oder zumindest zielgruppengenaue Eingreifen der Sozialkassen.
Dass aber der Staat sich erfrecht, die Daten, die ihm analog oder digital in verteilten Silos längst vorliegen, nicht selbst, sondern durch seine Bürger zusammentragen zu lassen, ist perfider als alles, was uns bislang von den großen Datenkraken aus den USA aufgetischt worden ist. Geradezu innovativ – und auch im Sinne der digitalen Souveränität jedes einzelnen Bürgers – wäre es, wenn der Staat alle paar Jahre einen Datensatz an jeden Bundesbürger versenden würde: „Das wissen wir von dir, was müssen wir korrigieren?“ Stattdessen leben wir mit der vorgeblichen Annahme, der Staat wisse gar nichts und benötige alle Daten noch einmal.
Es wird wirklich Zeit, dass der Staat sich sowohl digital als auch analog entmüllt. Die 50 BDI-Thesen mögen da helfen. Doch das Problem sitzt tiefer. Wenn wir dort nicht graben, ändert sich nichts. Es wird Zeit für den Abraumbagger!