Im Grunde sind sich alle einig: der Mittelstand ist das Rückgrat der wirtschaftlichen Stärke in Deutschland. Doch wie der „Motor der deutschen Wirtschaft“ nun genau aussieht und wie groß er ist, darüber gehen die Meinungen und Definitionen stark auseinander. Nach der gängigen und von vielen Wirtschaftsverbänden übernommenen Deutung der KfW gilt die 500er-Regel: Private Unternehmen aller Wirtschaftszweige mit weniger als 500 Millionen Euro Jahresumsatz und / oder weniger als 500 Beschäftigten im Jahresmittel. Das wären – je nach Auslegung – zwischen drei und 3,3 Millionen Unternehmen.
Zählt man jedoch kleinere Handwerksbetriebe und Selbständige hinzu, verdoppelt sich die Zahl nahezu auf insgesamt 6,1 Millionen Einheiten. Sie generierten im Jahr 2021 zusammengenommen 5,61 Billionen Euro Umsatz – oder um es beeindruckender darzustellen: 5610 Milliarden Euro. Dabei gilt als Daumenregel der klassische 80/20-Ansatz: die größten 20 Prozent der Unternehmen generieren rund 80 Prozent des Umsatzes und umgekehrt. Da die Schere hier immer weiter auseinandergeht, wird man wohl bald die 90/10-Regel ansetzen müssen.
Denn es sind vor allem die Selbständigen sowie die kleinsten und kleinen Firmen, die erst unter Corona, dann unter Konsumzurückhaltung, schließlich unter Lieferkettenproblemen und endlich unter explodierenden Energiekosten zu leiden haben. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand: Inhaber von kleineren Hotels, Bäckereien, Architekturbüros, Sanitärfirmen, Steuerkanzleien und ähnliche sähen ein „über Generationen hingereichtes Werk kaputt gehen“, sagte BVWM Bundesgeschäftsführer Markus Jerger im Podcast „The Pioneer“. Hingerichtet wird dieses „hingereichte Werk“ auch durch überbordende Bürokratiekosten, die die Kleinen härter treffen als die Großen. Denn ihr Aufwand ist relativ gesehen größer, wenn es um EU-Richtlinien und Gesetzgebungen geht wie die Datenschutz-Grundverordnung oder die Sorgfaltspflichten, die sich aus dem Lieferkettengesetz ergeben. Dass ihre Möglichkeiten, Steuersparmodelle in Angriff zu nehmen, zusätzlich begrenzt sind, macht die Lage nicht einfacher.
Doch die Kleinen, Kleinsten und Selbständigen verfügen über kaum eine Lobby – auch deshalb, weil sie sich nur unzureichend verständlich machen und ihre Herausforderungen selten gemeinsam formulieren. Nach einer Analyse durch Marketing- und Web-Agenturen sind sie sogar auch im Internet weiterhin unterrepräsentiert, haben kaum mehr Präsenz als durch eine selten besuchte statische Webseite, die nur wenig mehr Informationen bietet als eine Visitenkarte, und kommunizieren mit Kunden und Lieferanten bestenfalls per Mail oder per Telefon.
Dabei wären Digitalisierungsstrategien für die Kleinsten, Kleinen und Selbständigen jetzt das Mittel der Wahl, wenn dafür die finanziellen Mittel zur Verfügung stünden. Aber die sind längst durch Zwangs-Lockdown, Gas- und Stromrechnungen aufgebraucht. Und auch am Kapitalmarkt werden eher die Großen mit Krediten gestützt – vor allem, wenn ihnen das Etikett „systemrelevant“ anhängt. Dabei wären gerade jetzt Investitionen in ein effizientes Energiemanagement oder in eine bessere Kommunikationsinfrastruktur sinnvoll, damit Handwerksbetriebe ihre Kosten senken und Selbständige ihren Kundenkreis ausweiten könnten. Doch die Investitionsbereitschaft sinkt, meldet der Deutsche Mittelstands-Bund (DMB): 22 Prozent der Befragten – meist kleine Mittelständler – planen keine Investitionen, weitere 30 Prozent wollen ihre Ausgaben kürzen. Nur 15 Prozent wollen ihre Investitionen ausweiten.
Aber auch wenn die Schere zwischen den unteren 80 Prozent der zum Mittelstand zählenden Betriebe gegenüber den oberen 20 Prozent immer weiter auseinandergeht – zwei Probleme haben beide: den Fachkräftemangel und die Inflation. Denn ob Groß oder Klein – beide Gruppen haben Sorge, dass sie die eigenen Fachkräfte halten können. Und auch wenn die internationalen Tech-Konzerne gerade Fachpersonal zu Zehntausenden entlassen, ist nicht damit zu rechnen, dass die meist mit einer guten Abfindung Versehenen nun beim Bäcker nebenan oder in der Steuerkanzlei gegenüber anheuern werden.
Warum sollten sie auch, wenn die potentiellen Arbeitgeber mehrheitlich von einer schlechteren Unternehmensentwicklung im laufenden Jahr ausgehen. Stattdessen sollten auch die Kleinsten, Kleinen und Selbständigen Zeichen setzen und eines der wichtigsten Mantras im Mittelstand stärker betonen: „Wir schaffen das!“ Der Mittelstand muss aus der Deckung kommen und sichtbarer werden.