230123 Arzt

Medizin auf dem Weg zur exakten Wissenschaft

Seit mehreren Jahrzehnten erobert ein kleiner Drache Schritt für Schritt – oder Wort für Wort – die Arztpraxen rund um den Globus. Die Software „Dragon Naturally Speaking“ erlaubt es Ärzten, ihre Diagnosen oder Verschreibungen einfach zu diktieren und automatisch einer Patientenakte hinzuzufügen. Die „Voice-to-Text-Software“ Dragon ist in einer Home-Version auf den Sprachgebrauch eines Normalbürgers ausgelegt und lernt mit jedem Diktat dazu. In der Spezialversion für den Gesundheitssektor aber beherrscht Dragon von Anfang an komplizierteste medizinische Fachbegriffe .

Microsoft hat diese Software im Jahr 2021 für 19,4 Milliarden Dollar übernommen, um erstens seine eigene Gesundheitslösungen durch Speech-Recognition zu erweitern, zweitens aber auch, um seine Office-Angebote wie zum Beispiel Teams zu befähigen, automatisch Transkripte des in Meetings Besprochenen niederzuschreiben. Davon profitierten während der Corona-Lockdowns weltweit die im Homeoffice sitzenden Büroangestellten – aber eben auch internationale Ärzteteams, die sich – ganz im Sinne der Telemedizin – an ihren Bildschirmen zusammensetzen, um einen komplizierten Fall oder Studienergebnisse durchzusprechen. Man könnte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nach seinen Erfahrungen mit Voice-to-Text fragen, denn seine Verbindungen nach Harvard und anderen Denkschulen finden ebenfalls meist Online statt.

Doch was wäre, wenn eine künstliche Intelligenz künftig aus den diktierten ärztlichen Diagnosen für Laien verständliche Ärztebriefe formulieren würde? Genau das ist das Potential, das in der neuesten Generation von KI-gestützten Sprachlösungen wie ChatGPT steckt. Diese „Generative KI“ ist in der Lage, auf der Basis von Stichworten eigenständig Texte zu entwickeln, die sowohl das Niveau von Hausaufgaben, Klausuren aber eben auch von populären Fachbeiträgen erreichen könnten. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie aus vorliegenden Studien eine seriöse Sekundärstudie entwerfen kann. ChatGPT ist sozusagen der große Bruder von Dragon – und auch hier hat Microsoft mit zehn Milliarden Dollar ein nennenswertes Investment in das dahinter stehende Startup OpenAI getätigt.

Auch KI-Lösungen wie IBMs Watson haben schon dabei geholfen, Tausende von Studien zu durchforsten und neue Erkenntnisse zu schürfen.

Die Auswertung von bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder Computertomografie erfolgt mit Hilfe von KI exakter, weil die Bilderkennungssoftware aus Millionen von vergleichbaren Aufnahmen gelernt hat und auch für das menschliche Auge nur schwer zu erkennende Abweichungen sofort identifizieren kann. Und nicht zuletzt kann KI auch dabei helfen, die von sogenannten Fitness-Trackern produzierten Daten so zusammenzufassen, dass belastbare Aussagen nicht nur über den einzelnen Patienten, sondern über ganze Studiengruppen getätigt werden können.

Bei so vielen Einsatzmöglichkeiten ist es nicht überraschend, dass beispielsweise ein Unternehmen wie VinBrain jetzt eine umfassende Kooperation mit Microsoft geschlossen hat, um eine KI-basierte Komplettlösung für das Gesundheitswesen im eigenen Land aufzubauen. Ein Ergebnis ist DrAid TM, eine bereits von der amerikanischen Food and Drug Administration freigegebene Software für die Röntgendiagnostik. Basis für die Software ist ein Datensatz von 2,3 Millionen Röntgenbildern aus den USA, Europa und Asien sowie die von Radiologen markierten Befunde.

Auch das Unternehmen SK Group will mit Microsoft umfassende Lösungen im Medizin- und Pflegesektor entwickeln und dazu auf künstliche Intelligenz zurückgreifen. Ein Anwendungsfeld, das bereits im Einsatz ist, sind Diagnosen bei Computertomographie und Magnetoresonanztomographie, deren Genauigkeit medizinischer Studien zufolge bereits über 70 Prozent liegt. Ein weiteres Einsatzfeld ist „Medical Insight Plus Cerebral Hemorrhage“ zur Analyse von Gehirnblutungen, die über die Azure Cloud allen Krankenhäusern des Landes zur Verfügung steht.

Nur: VinBrain ist ein vietnamesisches Unternehmen, die SK Group wiederum hat ihren Sitz im südkoreanischen Seoul. Entsprechende Vereinbarungen in Deutschland sind dagegen allenfalls im Stadium des Visionären. Denn genau hier wird eine Grenze überschritten, die durch die europäische Datenschutz-Grundverordnung und die noch darüber hinausgehende Dataphobie der deutschen Datenschützer gezogen wird. Denn die achten das Recht der informationellen Selbstbestimmung höher als die Chance, durch KI-gestützte Datenanalyse bessere Diagnosen, Therapien und Vorsorge zu treffen und damit womöglich Menschenleben zu retten.

Abhilfe könnte hier das Projekt ODELIA schaffen, das mit Beginn des neuen Jahres ins Leben gerufen wurde. Das Open Consortium for Decentralized Medical Artificial Intelligence will in den nächsten fünf Jahren die Hindernisse bei der Datenerfassung im Gesundheitswesen durch den Einsatz von Schwarmlernen überwinden. Zu diesem Zweck werden die Verbundpartner KI-Modelle trainieren, ohne persönliche Patientendaten weitergeben zu müssen. Das ODELIA-Projekt wird von der Europäischen Union im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon Europe mit insgesamt 8,7 Millionen Euro gefördert.

Jahrtausendelang lebten Diagnose und Therapie im Gesundheitswesen von der Intuition der Ärzte und Pfleger. Deshalb wird der Medizin mitunter das Etikett einer exakten Wissenschaft – wie etwa der Physik – abgesprochen. Mit künstlicher Intelligenz könnte sich das ändern und einer datengestützten Medizin Raum geben. Wir müssen den Lösungen nur trauen – und uns trauen.

 

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