Vor einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der Harvard-Professor Clayton Christensen ein Buch, das zur „Manager-Bibel“ des Silicon Valleys werden sollte – sein Titel prägte und prägt die Kultur aller erfolgreichen Unternehmen: „Innovator´s Dilemma“. Inspiriert vom legendären Machtkampf zwischen Pepsi und Coke in den siebziger Jahren und dem unfassbaren Niedergang von IBM in den neunziger Jahren beschrieb Christensen, warum erfolgreiche Unternehmen in marktführenden Positionen dazu neigen, innovationsfeindliche Entscheidungen zu treffen. Sie werden risikoavers und bürokratisch. Statt Innovationen voranzutreiben tüfteln sie an Monitoringsystemen, um die eigene Performance mit Akribie genau und genauer zu messen. Es ist der „Fluch der Akribik“.
Auch die jüngste Wirtschaftsgeschichte ist voll von diesen Dilemmata der (ehemaligen) Innovatoren. Anfang dieses Jahrtausends hätte wohl niemand in Microsoft ein agiles Unternehmen erkannt – allzu sehr waren die Redmonder dem Erhalt ihrer auf Windows beruhenden Marktführerschaft verpflichtet. Das Innovator´s Dilemma kann sogar eine ganze Branche befallen, wie die Diskussion um Elektromobilität und autonomes Fahren beweist. Statt sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, stellten die deutschen Autobauer auf stur, um ihr fein austariertes Geschäftsmodell rund um den Verbrenner zu schützen, und versuchten eher über ihre Modellpolitik Minimalinnovationen gewinnmaximierend einzuführen. So machten sie den Weg frei für Tesla.
Und ganz aktuell dürfte Google als Beispiel für das Dilemma eines Innovators dienen. Mit einem Marktanteil von mehr als 90 Prozent im Suchmaschinenmarkt hat sich das Management im Googleplex darauf eingerichtet, diesen Status quo zu verteidigen, statt neue Technologien offensiv voranzutreiben. So konnte Microsoft seinen Überraschungscoup mit der um den KI-gestützten Sprachassistenten ChatGPT erweiterten Suchmaschine Bing setzen. Zwar ist Bing mit Abstand zweitplatziert im Search-Ranking. Aber das Momentum ist jetzt auf der Seite der Redmonder.
Dabei ist es nicht so, als hätte Google den KI-Markt verschlafen. Im Gegenteil: Die Transformer-Theorie, auf der ChatGPT und andere Sprachassistenten beruhen, stammt aus Googles Brain Labs. Und mit dem Sprachmodell LaMDA verfügt Google selbst über ein mächtiges KI-Werkzeug, das aber lange nicht zum Einsatz kam. Der Grund: Der Suchmaschinen-Riese hat angesichts der jetzt auftretenden Kinderkrankheiten von KI-gestützter Suche viel mehr zu verlieren als Microsoft. Und es ist abzusehen, dass Tools wie ChatGPT das bewährte und gewinnträchtige Geschäftsmodell mit der Suche im Internet angreifen – und die jetzige Cash Cow schwächen.
Es ist faszinierend zu beobachten, wie Google in den letzten Jahren geradezu akribisch die im Buch „Innovator´s Dilemma“ beschriebenen Fehler wiederholt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Gründer Larry Page und Sergey Brin ihren Mitarbeitern verordneten, 20 Prozent ihrer Arbeitszeit eigenen Projekten zu widmen. Googles ehemaliger Top-Manager Praveen Seshadri, der dem Konzern sichtlich frustriert den Rücken gekehrt hat, zeichnet das Bild einer inzwischen behäbig gewordenen Organisation, in der Entwickler unzählige Genehmigungsstufen durchlaufen müssen, wenn sie eine Programmzeile ändern wollen. „Wie Mäuse sind sie gefangen in einem Labyrinth aus Genehmigungen, Einführungsprozessen, rechtlichen Überprüfungen, Leistungsbeurteilungen“ und anderen bürokratischen Hürden, schreibt er in seinem Blog.
Die wahren Innovationen finden dort statt, wo diese bürokratischen Hürden nicht existieren – in Googles Schwestergesellschaften im Mutterkonzern Alphabet. Oder beim ChatGPT-Erfinder OpenAI, zu dem inzwischen ein knappes Dutzend frustrierter Google-Spezialisten gewechselt ist. OpenAI ist eines der vielen strategischen Kooperationen, die Microsoft mit innovativen Startups eingegangen ist. Offenheit für Partnerschaften ist tatsächlich eine neue Kultur bei Microsoft, die Microsofts CEO Satya Nadella seit seinem Amtsantritt 2014 eingeführt hat. GitHub, Nuance, LinkedIn und die noch laufende Akquise von Activision sind Beispiele dafür. Wichtiger noch ist die interne Kulturrevolution, die mit den verhassten und hässlichen „Stack Rankings“ ein Ende machte, bei denen Manager ihre Teammitglieder auf einer Normalverteilung in „Underperformer“ und „Overachiever“ einteilen mussten.
Vorbei ist auch die vergiftete Kultur des „Alle gegen Alle“, die eher dazu geführt hatte, Innovationen anderer zu verhindern als die eigenen Neuerungen zu forcieren. Und nicht zuletzt wurde Windows als allein seligmachende Cash Cow durch mehrere Produktsparten abgelöst, die sämtlich auf Cloud-Technologie beruhen. Da ist es nur konsequent, dass Microsoft inzwischen daran arbeitet, den Sprachassistenten ChatGPT auch in diejenigen Produktangebote einzubauen, in denen das Unternehmen eine gewisse Marktdominanz genießt: Office 365 und Teams zum Beispiel. Und dem Vernehmen nach soll die KI auch in der Unternehmenssuite Dynamics ihren Dienst antreten.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich Microsoft erfolgreich aus der Innovationsfalle befreit, die immer dann droht, wenn einst erfolgreiche Unternehmen stärker in die Verteidigung ihrer Marktdominanz investieren als in den Angriff auf neue Marktchancen. Statt Risiken einzugehen, bauen sie Bürokratien auf. Möglicherweise lässt sich dieser „Fluch der Akribik“ auch bei Behörden und Regierungen finden. So ließe sich die seit Jahrzehnten in Deutschland anhaltende Bräsigkeit bei Innovationen und Bürokratieabbau erklären. Vielleicht sollte man den Ampel-Koalitionären Christensens Buch „Innovator´s Dilemma“ aufs Kopfkissen legen.