230508 Jeep

Ein Jeep für alle Fälle

Es ist immer bedenklich, wenn man eine Lösung für praktisch alles serviert bekommt. Denn die allein seligmachende Lösung gibt es seit der Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr. Aber Künstliche Intelligenz hat tatsächlich etwas von einer „Silver-Bullet“ – einem Werkzeug für praktisch alles. Das liegt in der Tatsache begründet, dass eine Technologie wie Generative AI das vielleicht generellste Tool nach der menschlichen Sprache, der Kraft von Bildern, der Beherrschung des Feuers und der Erfindung des Rades ist, das die Menschheit je geschaffen hat. KI ist demnach so etwas wie ein Jeep – geeignet für jedes Gelände: General Purpose eben.

In jüngster Zeit poppen vermehrt Smartphone-Apps hoch, mit denen Menschen mit Behinderungen mehr Teilhabe ermöglicht wird – also Handy-Apps gegen Handicaps, sozusagen. Dazu gehört die Fähigkeit des KI-Modells DALL-E, digitalisierte Bilder zu beschreiben und damit Sehbehinderten oder Blinden zusätzliche Informationen zukommen zu lassen. Eine spezialisierte App bietet die Möglichkeit, einen beliebigen Gegenstand zu fotografieren, sodass die KI Informationen dazu abgeben kann – zum Beispiel, welche Texte auf einer Konservendose stehen, ob die Banane bereits braune Stellen aufweist oder ob der ausgewählte Pullover farblich zur Hose passt. Hörgeräte können immer ausgefuchster aktives Zuhören unterstützen, indem sie Umgebungsgeräusche oder Gespräche am Nachbartisch ausfiltern und lediglich die Stimmen in der nächsten Umgebung durchlassen. Menschen mit Mobilitätsbehinderungen werden bereits seit langem durch Collaboration-Lösungen besser in Teams integriert. Und Menschen mit einer Lese- oder Schreibschwäche werden nicht mehr bei der Kommunikation mit Schriftsprache ausgesperrt. Im Ergebnis können sich mehr Menschen mit ihren besonderen Fähigkeiten verwirklichen – ohne dass Handicaps eine unüberwindliche Barriere darstellen.

Das zeigt sich auch bei harter körperlicher Arbeit, bei der KI-gestützte CoRoboter oder intelligente Exoskelette den Menschen davor bewahren, schnell zu ermüden und bleibende chronische Schäden davonzutragen.  Gerade auf der Hannover Messe im April konnte man Roboter sehen, die sich sicher durch die Besuchermassen in den Gängen bewegten, weil sie in der Lage waren, den Menschen auszuweichen. In einer Fertigungsumgebung bietet das ungeahnte Vorteile, weil Roboter nicht länger in einem abgesperrten Bereich für sich arbeiten, sondern dem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zur Hand gehen können, ohne ihn durch „unbedachte“ Bewegungen zu verletzen.

Ohnehin sind KI-Systeme die sicherste Maßnahme gegen den immer weiter ausufernden Fachkräftemangel in Deutschland. Denn ob und inwieweit Migrationsgesetze tatsächlich wirken, ist angesichts des weltweiten Wettbewerbs um schlaue Köpfe und fleißige Hände durchaus fraglich. Doch wenn KI-gestützte Sprachassistenten Entwickler dabei unterstützen, komplexen Programmcode zu entwickeln, oder Menschen ohne Programmierkenntnisse befähigen, eigene Maschinensteuerungen zu programmieren oder individuelle Apps für die Beschleunigung ihrer Geschäftsprozesse zu entwickeln, ist dies von volkswirtschaftlicher Bedeutung.

Dass wir dadurch in die Lage versetzt werden, unsere Produktion noch flexibler und effizienter zu gestalten, weil ganze Fertigungsstraßen interaktiv zusammenarbeiten können und auf eventuelle Störungen in der Lieferkette oder bei einem geänderten Nachfrageverhalten zu reagieren, wird den Produktionsstandort Deutschland stärken und auch im Vergleich zu Billiglohnländern besser positionieren.

Und tatsächlich steht hinter der KI-gesteuerten Fertigung auch die Vorstellung von einer vollautomatisierten Produktion, wie sie in vielen für den Menschen ungesunden Umgebungen heute schon gang und gäbe ist. Auf lange Sicht scheint dies der einzige Weg zu sein, aus dem klassischen Gesellschaftsmodell des durch Arbeit finanzierten Lebens auszubrechen. Am 1. Mai stand bereits die Vision von der Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich im Fokus. Wie man auch immer dazu stehen mag, finanzieren ließe sie sich nur dadurch, dass die Maschinenarbeit besteuert wird und nicht die menschliche Arbeitszeit. Nur so – noch weiter gedacht – ließe sich auch das voraussetzungslose Grundeinkommen gegenfinanzieren.

Schon heute helfen KI-Systeme in der Fertigung dabei, ressourcenschonend zu produzieren und sich den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen anzunähern. Leerfahrten vermeiden, weniger Müll und weniger Ausschuss produzieren, Energie bewusster nutzen und alternative Materialien einsetzen, das sind sämtlich Aufgaben der Industrie, bei denen KI-Systeme den entscheidenden Unterschied machen können. Das gleiche gilt für die Hoffnung auf eine nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln durch eine exaktere Bewässerung und Düngung der Ackerflächen und die Beobachtung des Pflanzenwuchses durch intelligente Drohnen.

Dies sind Beispiele jenseits der immer wieder vorgebrachten Lösungsbausteine wie bessere Diagnose und Therapie im Gesundheitswesen, schnellere Bearbeitung von Formularen und Anträgen in den Behörden oder die unselige Debatte über Hausaufgabenhilfen durch Sprachassistenten. KI hat das Zeug zum Krisenkiller.

Oder ist künstliche Intelligenz doch die Keimzelle für die eine ganz große Krise – nämlich die, die das Ende des Homozäns einläutet, in der sich die Menschheit versklavt und mit Ego Shootern, Sex, Drugs und Crime abgespeist wird. Die Mahner dieser Welt sehen uns an der Schwelle zu jener Zeit, in der die ärgsten Science-Fiction Distopien vom Schlage der Matrix wahr werden. Sie fordern Auszeiten, Regulierungen und eine Selbstbeschränkung der KI-Konzerne.

Ich glaube, dass KI-Systeme sich ganz allmählich einschmeicheln in unser Leben – wie es bereits die Smartphones getan haben, die viele Menschen nicht mehr missen möchten. Es sind die kleinen Annehmlichkeiten wie die Rechtschreibhilfe, der intelligente Kalender, die Unterstützung von Kreativität und die Messung jedes einzelnen Herzschlags, die uns an künstliche Intelligenz ebenso gewöhnen werden, wie dies schon bei den Smartphones der Fall war. KI wird so sympathisch wie der Jeep der US-Soldaten, der für jeden Einsatzfall gebaut war. KI als Jeep für alle Fälle.

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