230522 Jeopardy

SAP im Cloud-Paradox

Vor zwölf Jahren versammelten sich Millionen US-Amerikaner vor ihren Fernsehgeräten, um mitzuerleben, wie sich ihr Champion gegen seinen Herausforderer schlägt. Der Champion, das war ein gewisser Ken Jennings, der über mehrere Jahre hin das beliebte Fernseh-Quizz „Jeopardy“ gewonnen hatte. Der Herausforderer war eine künstliche Intelligenz namens Watson, die in den Laboratorien der IBM entstanden und mit Tausenden von Lexika und Enzyklopädien gefüttert worden war. In der Sendung war nur ein Monitor zu sehen – doch der eigentliche Watson war eine ganze Flucht an Rechnern im IBM Forschungslabor in Yorktown Heights.

Am Tag nach dem grandiosen Sieg der Maschine Watson über den Menschen Jennings waren die Zeitungen und Nachrichtensendungen voll von Ahnungen und Befürchtungen über die Zukunft. Doch der Hype verflog so schnell, wie er gekommen war. Nachdem die für das Gesundheitswesen optimierte KI „Watson Health“ in mehreren Projekten floppte, entschied sich IBM für eine Milliardenabschreibung und einen Neuanfang – unter dem Namen „Watsonx“.

Dieser Neuanfang zeichnet sich jetzt in einer soeben geschlossenen Partnerschaft mit SAP ab – auch wenn sich das Ganze noch recht schwammig anhört: „SAP-Kunden werden dadurch von neuen KI-gestützten Einblicken und Automatisierungen profitieren und in der Lage sein, Innovationen zu beschleunigen. Anwendern wird so ein effizienteres Arbeiten im gesamten SAP-Portfolio ermöglicht.“ Das sagt irgendwie alles und nichts.

Konkret soll Watsonx SAP-Kunden dabei helfen, sich in den Cloud-Angeboten der Walldorfer besser orientieren zu können. „Über SAP Start als zentralen Einstiegspunkt haben Anwender einen einheitlichen Zugriff auf die Cloud-Lösungen von SAP“, heißt es in einem offiziellen Statement. „Sie können damit Apps, die in SAP-Cloud-Lösungen und SAP S/4HANA Cloud bereitgestellt werden, suchen, aufrufen und interaktiv nutzen.“

So weit, so langweilig! In einer Omdia-Studie aus dem vergangenen Jahr ließ sich SAP noch als „Nummer Drei“ unter den Unternehmen, die „Embedded AI“ anbieten, feiern. Damals waren weder Watsonx noch Chat-GPT von OpenAI am Horizont erkennbar. Vor allem Microsoft mischt dank seines Engagements bei OpenAI die KI-Szene derzeit auf und bietet Chat-GPT als „Copilot“ in nahezu allen Cloud-Produkten an. Auch beim CRM-Spezialisten SalesForce, der als Cloud-Pionier früh auf Software as a Service gesetzt hat, tut Chat-GPT bereits seine Dienste. Grund genug für SAP, noch vor dem eigenen Kunden-Event Sapphire eine tiefergehende Kooperation mit Microsoft rund um Chat-GPT beziehungsweise den „Copiloten“ anzukündigen. Hier soll die KI zunächst in die Personalmanagement-Lösung SuccessFactors integriert werden.

Die vermeintliche Nummer Drei in Sachen KI kauft also kräftig dazu, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das hat inzwischen traurige Tradition. Die letzte echte Innovation aus den Walldorfer Entwicklungslabors – nämlich Business by Design – konnte ihr Marktpotenzial nie ausschöpfen. Bei der Ankündigung dieser ersten lupenreinen SaaS-Lösung konnte man noch glauben, dass SAP mit Volldampf in die Cloud manövriert. Was dann kam, war ein Hin und Her zwischen OnPremises und OnDemand. Das lag nicht nur daran, dass die Kunden ihre millionenschweren Investitionen nicht in die Cloud verlagern wollten, sondern vor allem daran, dass in Walldorf überhaupt nicht die Rechenzentrums-Ressourcen zur Verfügung standen und auch heute wohl kaum stehen, um massiv anspruchsvolle Anwendungen aus der Cloud performant und zu wirtschaftlich interessanten Konditionen zu bedienen.

Da kann es nicht überraschen, dass mit IBM und Microsoft zwei Cloud-Giganten Hilfestellung für die Walldorfer leisten. Denn KI-Systeme sind große Ressourcenfresser, die sowohl bei der Datenmenge als auch bei der Energiemenge einen nach oben offenen Bedarf entwickeln. Zusammen mit Amazon und Google bilden IBM und Microsoft zumindest in der westlichen Welt die unangefochtenen Gatekeeper, die allein in der Lage zu sein scheinen, dem Daten- und Rechenhunger der KI-Transformation in den Unternehmen zu begegnen. Das führt zu einer geradezu paradoxen Machtverteilung. Denn diese Zentralisierung der IT- und KI-Infrastruktur führt ganz offensichtlich gleichzeitig zu einer Demokratisierung und Dezentralisierung der Nutzung: KI für jedermann.

Wenn schon SAP kaum in der Lage zu sein scheint, den Cloud-Bedarf seiner Kunden zu decken, wie sollten dann mittelständische Unternehmen diese Infrastruktur stemmen? Sie profitieren aber als Kunden von KI- und IT-Lösungen, die ihnen OnDemand zur Verfügung gestellt werden. Sie mieten oder abonnieren den „Brennstoff der Zukunft“, indem sie Rechenzentrums-Ressourcen für ihre Daten und Rechenpower für ihre KI-Anwendungen buchen. Also mehr Cloud für alle durch mehr Cloud von wenigen.

Und so finden wir SAP inmitten eines Cloud-Paradox, das zugleich als Perspektive dienen kann. Es wäre utopisch anzunehmen, Walldorf könnte weltweit Data-Center errichten, die die bestehende Kundenbasis aus globalen Konzernen bedienen könnten. Das geht nicht mehr ohne Microsoft oder IBM oder vielleicht noch mit der Deutschen Telekom. Aber SAP kann den deutschen Mittelstand beziehungsweise das globale Small and Medium Business bedienen. Das wäre ein Wachstumspotential, auf dem man auch Aktionärsphantasien aufbauen könnte.

Mit diesem Cloud-Paradox kann man sich abfinden. Aber dann muss man sich auch damit abfinden, dass die Infrastrukturen nicht europäisch, sondern im Idealfall US-amerikanisch sind. Das wäre dann immer noch besser als eine Abhängigkeit gegenüber China. Europäische Träume von digitaler Souveränität sind damit so oder so nicht zu verwirklichen. Dass Politiker davon immer noch träumen und reden, ist auch paradox.

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