Von Dinosauriern sagt man, dass sie eigentlich gar nicht ausgestorben sind, sondern einfach davonflogen – die enge Verwandtschaft zwischen Reptilien und Vögeln legt diesen Aphorismus nahe. Von Mainframes, den Großrechnern aus den Anfängen der Datenverarbeitung, kann man das Gleiche sagen: Sie sind nicht ausgestorben, sondern sind einfach in die Wolke entschwunden.
Tatsächlich ist die Cloud nichts anderes als eine Ansammlung von gigantischen Mainframes. Die Cloud-Rechenzentren bestehen heute aus ganzen Schluchten mit Racks, auf denen Prozessoren blinken. Supercomputer für wissenschaftliche Anwendungen, Quantencomputer für experimentelles Rechnen, Grafikprozessoren für schnelle Bildbearbeitung und ganze Serverfarmen repräsentieren Zettabytes an Speicherkapazität und Teraflops an Rechenleistung. Ihre Services sind inzwischen für Wirtschaft und Gesellschaft so essentiell wie Gigawatt und Hektoliter.
Diese Cloud-Rechenzentren sind im Besitz von wenigen Tech-Giganten wie den US-Größen Google, Amazon, Microsoft, den chinesischen Anbietern wie Alibaba, Huawei, Tencent und Baidu oder – mit deutlichem Abstand – den deutschen Playern wie Telekom und SAP. Sie lösen mit ihren Dienstleistungen in ihrer Bedeutung allmählich die klassischen großen Infrastrukturdienstleister für Eisenbahnen, Ölförderung oder Stromnetze ab. Ja, Stromnetze – denn sämtliche Tech-Giganten investieren längst selbst in die Produktion von Energie für den gigantischen Bedarf ihrer Serverfarmen. Microsoft zum Beispiel hat eine Wette auf die Zukunft abgeschlossen und will ab 2028 Energie aus Kernfusion gewinnen.
Amazons-Chef Jeff Bezos gebührt wohl die Anerkennung, als erster auf den Megadeal mit Web-Services gesetzt zu haben. Inspiriert von der Post-Dotcom-Phase, als sich Lieferdienste, Online-Shops und Startups nach externer Rechenpower umsahen, hat AWS (Amazon Web Services) den Markt für sich allein erobert. Dabei war zu diesem Zeitpunkt schon Google sein eigener Produzent von Rechnerleistung, indem es Millionen von Computerracks zusammenschraubte und für seine Suchmaschine bereitstellte. Doch erst mit dem Eintritt von Microsoft in das Cloud-Geschäft, gab es die Dynamik, wie wir sie heute sehen.
Denn die Cloud ist längst nicht mehr durch Kürzel definiert wie SaaS (Software as a Service) oder IaaS (Infrastructure as a Service). Wir streamen Musik und Videos, statt DVDs zu kaufen, laden Online-Spiele herunter, statt sie auf der Konsole zu installieren, wir navigieren mit dem Smartphone durch die Welt, chatten mit KI-gestützten Sprachassistenten und beeinflussen als Influencer in den sozialen Medien unsere Umwelt. Alle diese Services kommen aus der Cloud. Und gleichzeitig verlagern immer mehr Unternehmen ihre IT-Infrastruktur in die Cloud, vernetzen ihre smarten Maschinen im Internet der Dinge und analysieren ihre Datenschätze mit KI-Ressourcen aus der Wolke. Abonnements statt Lizenz lautet das neue Geschäftsmodell, das sowohl Providern als auch Nutzern neue Flexibilität erlaubt.
Und – wie es scheint – ist das Oligopol der Cloud Service-Provider längst verteilt. Die US-Anbieter Amazon, Google und Microsoft haben längst die drei Spitzenpositionen eingenommen. Darüber aber, wer von den Dreien die Nase vorn hat, gibt es unterschiedliche Ansichten. Traditionell hat AWS mit reinen Rechenzentrumsdienstleistungen die Nase vorn, ehe Microsoft mit seiner Azure-Plattform einen abgeschlagenen zweiten Platz einnimmt. Doch Marktforscher Bob Evans macht eine eigene Rechnung auf. Nach seiner Deutung des Marktes reicht es nicht mehr, allein die klassischen „as a Services“ als Maßstab zu nehmen.
Denn Microsoft hat inzwischen das gesamte Anwendungs-Portfolio in die Cloud gehoben. Mit Microsoft 365, Dynamics 365, Office 365, dem sozialen Netzwerk LinkedIn und der Entwickler-Plattform GitHub hat Microsofts CEO Satya Nadella so ziemlich alles in die Wolke verschoben, was Umsatz und Kundenbindung bringt. Und die Antitrust-Anhörung zur Übernahme des Spiele-Anbieters Activision Blizzard machte deutlich, dass Microsoft auch die klassische Spielekonsole durch die Cloud ersetzen will.
Das alles zusammen entspricht einem Umsatzvolumen von 124 Milliarden Dollar, rechnet Bob Evans vor – und das sei etwa genau so viel wie Google und Amazon Web Services gemeinsam erwirtschaften. Den Vorwurf, dass damit Äpfel und Birnen verglichen würden, weist er von sich: Die Cloud ist ein Infrastrukturangebot, dass jeden Aspekt der Informationstechnik mit einschließt. Wer dabei in seinem Angebot Lücken offenlasse, habe das selbst zu verantworten. Die kommenden Jahre werden es zeigen. Denn während Google und Amazon in ihren engen Märkten schneller wachsen, wächst Microsoft in der Breite.
Ist damit die Welt schon aufgeteilt? Bisher, so lehrt die Erfahrung, folgte auf jede Zentralisierung stets eine Dezentralisierung, auf die wiederum eine Rezentralisierung und eine Redezentralisierung folgten. Das muss diesmal nicht so sein. Denn die Cloud hat das Zeug, einen eigenen Kondratjew zu bilden – jene großangelegten Technologiesprünge von der Dampfmaschine über Strom und Öl bis zur Informationstechnik. Das wäre geradezu episch, wenn nach dem ersten Kondratjew aus Dampf nun der letzte Kondratjew ebenfalls im Dampf der Wolke mündet. Die Antwort ist allerdings noch reichlich umwölkt.