Mittelstandsmotor

Ende der achtziger Jahre wurde so manches Manager Magazin mit dem Abgesang auf den deutschen Mittelstand gefüllt. Während die Konzerne der Deutschland AG kräftig in Mainframes und Großrechnerlösungen investiert hatten, setzten die mittelständischen Maschinenbauer im Ländle, die Spezialchemiker entlang der Rheinschiene und die Nahrungsmittelhersteller im Norden und Süden weiterhin auf das batterielose Geschäftsprozessmanagement – sprich: sie setzten auf das gute alte Papier.

Ende der neunziger Jahre wurde so manches Computer Magazin mit dem Abgesang auf den deutschen Mittelstand gefüllt. Während die Konzerne der Deutschland AG kräftig ins eBusiness und Online-Prozesse investierten, setzten die mittelständischen Unternehmen weiterhin auf ihre bewährten Workflow-Management-Lösungen – sprich: sie setzten auf die guten alten ERP-Anwendungen.

Derzeit werden so manche Online Magazine mit der Sorge des Mittelstands gefüllt, die Politik und die Großunternehmen der Deutschland AG hinkten bei der Digitalisierung der produktionsnahen Geschäftsprozesse hinterher. Es fehle an technischen Rahmenbedingungen, verlässlichen Standards und einer widerspruchsfreien Datenschutzregelung. Nun ist es vor allem der deutsche Mittelstand, der sich im Voranschreiten behindert sieht.

Es ist schon faszinierend, dass die Unternehmer-Garde, der seit Jahrzehnten das Stigma nachhängt, in Technologiefragen immer eine bis zwei Generationen zurückzuliegen, hier nun ganz vorne mit dabei sein will. Dabei ist der Grund leicht einzusehen: die Steigerung der Effizienz und die Senkung der Kosten bei der Optimierung der Geschäftsprozesse durch Digitalisierung stimmt besonders hoffnungsfroh. Tatsächlich rechnet kaum ein Unternehmen damit, dass die Investitionen in Industrie 4.0 auf kurze Sicht Arbeitsplätze schaffen würden. Vielmehr (und aus Unternehmersicht interessanter) ist da das Versprechen, mit der bestehenden Mannschaft mehr Erfolge erzielen zu können.

Drei Viertel der Befragten, so besagt eine aktuelle Umfrage unter mittelständischen Unternehmern, sieht sich durch die Politik bei der Umsetzung von Industrie 4.0 nur geringfügig unterstützt oder sogar behindert. Zwar basiert die Studie nur auf rund 140 Befragungen und hält damit den strengen Anforderungen an eine repräsentative Umfrage nur bedingt stand – einen Trend drückt sie dennoch aus. Beim wahrscheinlich wichtigsten industriellen Megatrend für den Fertigungsstandort Deutschland, der Digitalisierung der Geschäftsprozesse über das Internet der Dinge, nehmen wir zu wenig Speed auf.

Dabei geben die Mittelständler sich selbst und ihrem Standort gar nicht mal so schlechte Noten: Bei der Umsetzung von Industrie 4.0 sei Deutschland unverändert führend, teilten sie der Unternehmensberatung Staufen mit, die aus dem Befragungsergebnis einen ersten Industrie-4.0-Index kreiert. Auf den Plätzen folgen nach der Selbsteinschätzung Japan und die USA. Allerdings haben erst 15 Prozent der Befragten tatsächlich operative Einzelprojekte zur Produktionsdigitalisierung abgeschlossen. Immerhin aber knapp jeder zweite Mittelständler plant, analysiert, beschafft oder testet derzeit Maßnahmen zur „Smart Factory“.

Insgesamt also befassen sich sechs von zehn Unternehmen bereits aktiv mit Industrie 4.0 – ein Wert, der möglichst bald durch eine breiter angelegte Studie verifiziert werden sollte. Diesen „mittelständischen Revolutionären“ wird die Kanzlerin nach dem IT-Gipfel nicht nur aus dem Herzen gesprochen haben, als sie mehr Investitionen in dieses Fortschritts-Segment forderte und förderte.

Es wäre doch zu schade, wenn der Mittelstandsmotor ins Stocken käme, nur weil in den Infrastrukturministerien stärker über die Pkw-Maut und ihre datenschutzrechtliche Würdigung diskutiert wird als über die Festnetz- und Mobil-Verbindungen, die für die anstehende Explosion an Datentransferbedarfen notwendig sind.

Gute Daten, schlechte Daten

Früher, vor der digitalen Revolution der Gesellschaft, waren überraschende Erkenntnisse, die aus großen, nicht unmittelbar zusammen hängenden Datenmengen und Ereignissen gewonnen wurden, wie eine „Reise nach Serendip“. Deshalb wird die Entdeckung des Penicillins beispielsweise als Ergebnis dieser Serendipität bezeichnet. Doch, so die Warnung der Erkenntnistheoretiker, der intellektuelle Durchbruch gelingt nur dem vorbereiteten Geist. Kurz: wer nicht weiß, dass er sucht und was er sucht, findet auch bei bester Datenlage nichts.
Es sei nicht alles schlecht, was mit Big Data verbunden und gefunden werde, räumte jetzt die Kanzlerin nach dem durch Streik behinderten IT-Gipfel in Hamburg ein. Nur: „Wir müssen die Stelle finden, wo die Daten in anonymer Form mit Big Data neue sinnvolle Produkte möglich machen.“ Es müsse doch beim heiligen Hollerith möglich sein, die Wertschöpfung, die sich aus der Analyse großer Datensammlungen ergeben kann, voranzutreiben, ohne gleichzeitig Datenschutz und das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zu gefährden. Kurz: Erkenntnis ohne Erkennbarkeit.
Auch der für Straßenverkehr und Datenverkehr zuständige Bundesminister Alexander Dobrindt sieht in der massenhaften Sammlung von Informationen und ihrer gewerblichen Ausschöpfung nicht notwendigerweise ein Hexenwerk, wie er der FAZ in einem Namensbeitrag anvertraute. Die Herausforderung für die Politik bestehe vielmehr darin, unangemessene Monopolstellungen zu verhindern. So wie die Monopole des Kapitals durch eine soziale Marktwirtschaft gebrochen wurden, sollte auch „Monopolen des Digitals“ eine digitale Marktwirtschaft entgegen gestellt werden. Kurz: Google ist nicht prinzipiell „böse“ – es gibt nur zu wenige davon.
Vor allem in Europa. Das soll nun aber wirklich anders werden, wurde wieder einmal bekundet. Und wieder einmal reagierte der Hightech-Verband Bitkom auf diese Ankündigung mit der Forderung nach einem flächendeckenden Breitbandausbau. Denn ohne Datenautobahn nutzen die schönsten Datensammlungen nichts. Allerdings räumte der Bitkom ein, bedeute flächendeckend nicht unbedingt flächendeckend. Kurz: Nicht jeder unbewohnte Landstrich benötigt ein superschnelles mobiles Netz.
Was wir aber brauchen, ist eine superschnelle Wirtschaftsförderung, die alten und neuen Unternehmen den Weg in die vierte digitale Revolution ebnet. Hier weiß sich die Bundesregierung einig mit der EU-Kommission unter ihrem neuen Präsidenten Jean-Claude Juncker. Denn Big Data und Industrie 4.0 sind Herausforderungen von europäischem Zuschnitt. Es wäre doch auch zu beschämend, wenn die EU – wie seinerzeit im Falle von IBM und später Microsoft – wieder ein Anti-Monopol-Verfahren anstrengen müsste, um unliebsame Alleinstellungen zu brechen…
Dass Monopole keineswegs für die Ewigkeit gemacht sind, beweist in diesen Tagen IBM mit einer weiteren Episode aus „Gute Zahlen, schlechte Zahlen“: mit 22,4 Milliarden Dollar Quartalsumsatz verfehlte der einstige Gigant die Prognosen von 23,4 Milliarden Dollar satt und setzte gleichzeitig seine sukzessive Selbstentleibung mit dem Verkauf seiner Halbleitersparte fort. Ach was: Verkauf? IBM zahlte noch 1,5 Milliarden Dollar drauf! Das vor einem Vierteljahrhundert für uneinnehmbar geltende Hardware-Monopol existiert nicht mehr.
So lange will und soll Europa nicht warten. Aber der Datendurchbruch kommt nicht allein aus der Politik. Wir brauchen Unternehmer, die sich auf die erkenntnisreiche „Reise nach Serendip“ machen – in guten und in schlechten Zeiten.

Geschäftsideen 4.0

Es wird viel geplant derzeit auf politischer Ebene. Gleich vier Bundesminister bereiten die Digitale Agenda vor, deren erste Entwürfe allerdings allenfalls ein „ausreichend“ in den Augen der Wirtschaftsexperten erzielt hat. Da tagt der IT-Gipfel in der IHK zu Hamburg – auch wenn die Anreise durch den gerade begonnen Piloten-Streik und den gerade beendeten Lokomotivführer-Streik erschwert bis unmöglich gemacht wird. Und da kündigt der neue Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, zu Beginn seiner fünfjährigen Amtszeit an, einen europäischen Rechtsrahmen für die digitale Wirtschaft zu schaffen. Seine beiden zuständigen EU-Kommissare, der Este Andrus Ansip (Abbau von Handelsbarrieren im eCommerce) und der Deutsche Günther Oettinger (Zielsetzung: „digitaler Binnenmarkt“) assistieren bereits. Und ins selbe Horn stößt Junckers Pendant, Matteo Renzi, der als Italienischer Ministerpräsident turnusmäßig den Ratsvorsitz innehat: er entwickelt derzeit einen Plan für ein „digitales Europa“, der diese Woche noch vorgestellt werden soll und eine Investitionsoffensive in ganz Europa ankurbeln soll.

Bei so viel politischer Unterstützung könnte einem angst und bange werden. Denn die Erfahrung zeigt bislang: Je mehr politischer Wille auf europäischer Ebene hinter einer technologischen Initiative steht, umso langsamer mahlen die Mühlen in Brüssel und Berlin. Doch diesmal könnte tatsächlich Einmütigkeit zwischen der Politik in den Ländern und der Europäischen Union einerseits und zwischen Politik und Wirtschaft andererseits zu einem großen Durchbruch führen. Denn nichts weniger als das Überleben der Industrie auf dem Alten Kontinent steht auf dem Spiel.

Dies droht nämlich, so befürchten Wirtschaftsverbände und Unternehmensberater, wenn es nicht gelingt, die „digitale Kleinstaaterei“ in der Europäischen Union zu überwinden. Nationale Alleingänge seien dabei ebenso wenig förderlich wie das gegenseitige Ausbremsen zur Durchsetzung des kleinsten gemeinsamen Kompromisses. Um nicht „international den Anschluss zu verlieren“, wie beispielsweise BDI-Chef Ulrich Grillo letzte Woche warnte, hat der Bundesverband der deutschen Industrie jetzt die Consultants von Roland Berger eingeladen, ein Zukunftskonzept zur Vernetzung von Maschinen in der Produktion – bekannt unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ – zu erstellen.

Ziel ist es dabei nicht nur, technische und rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, sondern auch bei der kreativen Umsetzung der neuen Möglichkeiten im „Internet der Maschinen und der Dinge“ europaweit voranzukommen. Neue Geschäftsideen braucht der Kontinent – und den Mut, alte Zöpfe bei der Gelegenheit abzuschneiden.

Nirgends wird die Problematik derzeit deutlicher als in der Debatte um den Mitfahrdienst Uber, über den man privat Autos und Fahrer anheuern kann. Das auf bessere Auslastung leerer Autos zielende Konzept greift tief in die überkommenen Monopolstrukturen des Taxigewerbes ein. Der Widerstand ist folglich groß. Aber genauso erzeugen gegenwärtig überall im Wirtschaftsgeschehen disruptive Technologien neue Geschäftsmodelle, die bestehende Verkrustungen erst erkennbar und dann überflüssig machen.

Den damit verbundenen Wandlungsprozess will Europa jetzt im Gemeinschaftsgang vorantreiben, um den Alten Kontinent besser gegen das Technologiediktat aus den USA und immer deutlich spürbar auch aus dem asiatisch-pazifischen Raum zu wappnen. So könnte die Initiative ein „Wirtschaftswunder 4.0“ lostreten. EU-Kommissar Andrus Ansip erhofft sich ein zusätzliches jährliches Wachstum um 1,7 Prozentpunkte pro Jahr.

Doch die Realität sieht (noch) anders aus: 2010 wurden in der EU gut 40 Milliarden Euro für digitale Dienstleistungen ausgegeben – mehr als in den USA. 2014 überschreiten die Vereinigten Staaten die 70-Milliarden-Euro-Marke, während in der EU die Ausgaben lediglich auf 50 Milliarden Euro gestiegen sind. In den USA, so wird offenkundig, wächst nicht nur die Nachfrage schneller, sondern entwickeln sich auch neue Angebote vielfältiger und bunter als hierzulande.

Noch hat die Industrie in Europa die Nase vorn. Was sie braucht, sind neue Geschäftsideen – und die dazu passenden Rahmenbedingungen.

Unsichtbare Analytik im digitalen Dunkel

Schärfer konnten die Gegensätze nicht sein:

Einerseits: „Der Kern der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit“ liegt darin, warnt Jaron Lanier, „dass Computer so tun, als wäre Statistik eine adäquate Beschreibung der Realität.“ Der Internet-Aktivist forderte in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels einen technologischen Neuansatz, der nicht nur die Leistung und Effektivität, sondern vor allem auch die Würde der Anwender stärkt. Das aber sei in der Welt der „Algorithmen und Cloud-Connectivity“ derzeit nicht gegeben…

Andererseits: Nahezu zeitgleich und eine Viertel Erddrehung weiter westlich verkündete die Gartner Group in ihrem jährlichen Hochamt, dem Gartner Symposium  IT/Expo im floridanischen Orlando, jene zehn Trends der Informationstechnik, die die Welt im Jahr 2015 verändern werden. Und tatsächlich haben diese zehn Angebote, richtig falsch angewendet, jedes für sich das Potenzial für einen Angriff auf die Würde des Menschen. Der Mensch als Trend-User soll, laut Gartner, vor allem investieren und dann funktionieren.

Und das sind die „zehn Angebote“:

Computing Everywhere: Smartphones und mobile Geräte sind Teil der erweiterten IT-Infrastruktur und verbinden die private Umgebung und den Arbeitsplatz mit dem öffentlichen Raum. Damit aber verliert das IT-Management zugleich die Kontrolle über das Gesamtsystem.

Internet of Things: Wenn nicht nur Maschinen und Waren, sondern auch Dienstleistungen, Personen, Orte oder Systeme digitalisiert werden, entstehen neue Geschäftsmodelle für Unternehmen.

3D-Druck: Verbesserte Designs, beschleunigte Produktentwicklung und verkürzte Fertigungsprozesse werden das Ergebnis eines weitergehenden Einsatzes von 3D-Druckern sein, die sowohl im industriellen Umfeld als auch in der Medizin und im privaten Verbrauch genutzt werden.

Unsichtbare Analytik: Jede App wird zugleich auch ein Analysewerkzeug, weil die Digitalisierung der Dinge und Prozesse eine Datenflut erzeugt, die der Auswertung bedarf – filtern, kumulieren, extrahieren und bereitstellen.

Kontextsensitive Maschinen: Die allgemeine Verfügbarkeit von analytischen Informationen führt dazu, dass mobile Endgeräte und Maschinen immer individueller auf den situativen Kontext reagieren und zum Beispiel nur die in einer gegebenen Situation relevanten Informationen beisteuern.

Smarte Maschinen: Wenn Maschinen auf ihren Kontext reagieren können, können sie – wie zum Beispiel autonome Fahrsysteme oder Roboter – selbständig agieren.

Cloud/Client-Computing: Das Zusammenwachsen von Cloud- und mobilem Computing  führt zu zentral gesteuerten, individuell genutzten Services. Die Infrastruktur kann elastisch auf Veränderungen in der Nachfrage reagieren.

Dynamische Software-Modelle: Agile Programmiertechniken sind entscheidend, um bei sich ständig änderndem Nutzerverhalten und Anwendungen und Infrastrukturen anzupassen.

„Web-Scale“ IT: Das Web ist die Infrastruktur der Wahl auch für global agierende Unternehmen, die sich selbst firmeninterne, aber ubiquitär nutzbare Cloud-Strukturen etablieren.

Risiko-bewusste Sicherheit: Alles in der digitalen Zukunft wird durch Sicherheit definiert. Wie sicher aber sicher ist, bleibt letztlich jeder Organisation und jedem Individuum selbst überlassen. Ein neuer methodischer Ansatz, der Sicherheit, die „gut genug ist“ abwägt, ist deshalb gefordert.

Gartner glaubt, dass diese Trends die Welt im Innersten zusammenhalten.

Doch das „digitale Dunkel“, so Jaron Lanier, droht ebenso.

Ich schlage vor, wir warten erst mal ab – und hoffen auf mehr Details.