Der große Graben

Die Debatte um die digitale Transformation und ihre Bewältigung folgt üblicherweise einem bewährten Narrativ. Es dient als Hypothese, die in Studien bestätigt wird. Es ist die Basis für Fördermittelvergabe an der Schnittstelle von Wissenschaft und Wirtschaft. Und es ist die Grundlage für Lobbyisten und Politiker. Das Erzählmotiv geht ungefähr so:

Auf der einen Seite steht der deutsche Mittelstand, der sich nur zögernd gegenüber den Möglichkeiten der Digitalisierung öffnet. Da mittelständische Unternehmen für gut zwei Drittel der deutschen Wirtschaft stehen, ist der Standort Deutschland in Gefahr.

Auf der anderen Seite stehen die deutschen Startups, die sich disruptiv mit der Digitalisierung bestehender Geschäftsmodelle befassen. Da in Deutschland eine intensiv gelebte Gründerkultur fehlt, gibt es viel zu wenige dieser Hoffnungsträger. Deshalb ist der Standort Deutschland in Gefahr.

Dabei wird unterstellt, dass die einen – der Mittelstand – eine aussterbende Spezies sind, weil es ihr nicht gelingt, sich an die Herausforderungen des digitalen Ökosystems anzupassen. Die anderen – die Startups – verhungern auf der Suche nach Kapital und Kunden im digitalen Ökosystem. Deshalb werden Fördermaßnahmen gefordert, die das „Survival of the Unfittest“ sicherstellen sollen.

Die wichtigste Fördermaßnahme aber liegt gar nicht in den Händen der Politik. Sie liegt in den Händen der Beteiligten selbst, wie das Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft (HIG) jetzt in einer breit angelegten Studie herausgearbeitet hat: Die wichtigste Fördermaßnahme besteht in der Überwindung des großen Grabens zwischen Mittelstand und Startups. „Learn, Match and Partner“ – empfehlen die Studienautoren nach gut 70 Interviews auf beiden Seiten des Atlantiks. Den während es dem Mittelstand an der Agilität fehlt, um neue Geschäftsmodelle aus den bewährten Strukturen herauszuheben, fehlt es den Startups an Kunden. Im Grunde also sind Mittelständler und Startups die idealen Partner, weil jeder hat, was dem anderen fehlt.

Es gelingt nur bislang viel zu selten, den großen Graben zwischen beiden zu überwinden. Einen Grund dafür sehen die Studienautoren in den geschlossenen Innovationsprozessen, die im Mittelstand immer noch bevorzugt werden. Zwar ist es inzwischen kaum noch möglich, die für Neuerungen notwendigen Kompetenzen sämtlich im eigenen Haus vorzuhalten, aber die meisten mittelständischen Unternehmen blieben trotzdem diesem Prinzip treu. Wenn sie Kooperationen suchen, dann in der eigenen Branche, besser noch innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette.

Ein offener Innovationsprozess hingegen sucht die Kompetenzen möglichst außerhalb des eigenen Ökosystems – entweder, indem eigene Ideen mit Hilfe des Marktes weiterentwickelt werden (also Inside-Out) oder, indem Innovationsansätze von außerhalb aufgenommen und mit der eigenen Expertise, zum Beispiel bei der Fertigung, umgesetzt werden (Outside-In).

Soweit die Theorie. In der Praxis aber, das haben die Interviews und Workshops gezeigt, die der Studie zugrunde liegen, prallen mit Startups und Mittelstand zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Dabei sind es interessanterweise die Kunden, die die Unterschiede in den Denkschulen der beiden potentiellen Kooperationspartner ausmachen. Mittelständische Unternehmen verfügen in der Regel über einen loyalen Kundenkreis und richten den überwiegenden Teil ihrer Aktivitäten darauf aus, diese Kundenbindung durch eine vorsichtige Produktpolitik und Stetigkeit in den Geschäftsprozessen zu erhalten. Startups hingegen verfügen über kaum nennenswerte Kunden, auf deren Bedürfnisse es Rücksicht zu nehmen gilt, und können den Markt ohne Scheuklappen analysieren und umkrempeln.

Startups sind „Explorer“, Etablierte sind „Exploiters“. Aber aus diesem Clash of Cultures können echt Innovationen entstehen. Dass dafür in Deutschland die Voraussetzungen nahezu ideal sind, hat jüngst der 5. Deutsche Startup Monitor vorgeführt. Die Untersuchung der Startup-Szene in Deutschland, die vom Bundesverband Deutsche Startups in Zusammenarbeit mit KPMG durchgeführt wird, bekräftigte die Einschätzung, dass der größte Teil der deutschen Neugründungen auf Business-to-Business-Beziehungen setzt. Sie sind also ähnlich ausgerichtet wie ihre potentiellen Kooperationspartner aus dem Mittelstand.

Der Startup-Verband, der in diesen Tagen sein fünfjähriges Bestehen feiert, hat daraus Konsequenzen gezogen. Der wesentliche Teil der Verbandsarbeit zielt inzwischen auf die Überwindung des großen Grabens. Matchmaking-Events, Fördermitgliedschaften und Wirtschafts-Netzwerke sollen die Zusammenarbeit zwischen Startups und Mittelstand stimulieren. Denn Startups gelten als „Mittelstand von Morgen“. Aber sie sollen nicht den Mittelstand von heute ablösen, sondern mit ihm kooperieren. Der wichtigste Schritt auf dem Weg in die Digitalisierung ist damit ein großer Sprung: der Sprung über den großen Graben.

Die Schlafwandler

Das altbekannte Lied vom orientierungslosen Mittelstand, der wie ein Schlafwandler durch die Nacht des digitalen Wandels irrt, hat jetzt eine unüberhörbare Zweitstimme erhalten: Auch die börsennotierten Großkonzerne werden von Unternehmenslenkern geführt, die kaum nennenswerte digitale Kompetenz aufweisen. Schlimmer noch: den Vorständen wird sogar überhaupt unternehmerische Kompetenz abgesprochen. Gründergeist, die Fähigkeit zur Transformation und Entrepreneurship sind in den Chefetagen der deutschen Aktiengesellschaften seltene Tugenden.

Zu diesem starken Urteil kommen jedenfalls Prof. Dr. Julian Kawohl, Inhaber der Professor für Strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (htw) in Berlin, und Dr. Jochen Becker vom Investment Lab Heilbronn nach der Lektüre von gut 400 Lebensläufen der DAX- und MDAX-Vorstände. Süffisant urteilt der Management-Professor Kawohl in seiner Studie, dass die wichtigsten börsennotierten Unternehmen bei der Besetzung der Vorstandteams großen Nachholbedarf hätten, wenn es um die Kompetenzfelder Entrepreneurship, Gründergeist und Digitalerfahrung gehe. Offensichtlich werde der unternehmerische Ansatz bei der Auswahl von Vorständen nicht hoch genug bewertet.

Damit befindet sich der so oft gescholtene deutsche Mittelstand in bester Gesellschaft – was die Orientierungslosigkeit in Bezug auf die Digitalisierung angeht. Dagegen werden aber gerade den Familienunternehmen Bestnoten bei der unternehmerischen Kompetenz verliehen. Dabei ist es eher Augenmaß als Risikofreude, was die mittelständischen Lenker antreibt, die deshalb auch angesichts der digitalen Herausforderung ebenso zögerlich sind wie die Konzern-Vorstände.

Hinzu kommt, dass mittelständische Geschäftsführungen und DAX-Vorstände deutlich überaltern. Ein Durchschnittsalter von 52,6 Jahren hat die Studie demnach ergeben. Nur ein Prozent aller Vorstände kommt aus der sogenannten Generation Y – also der nach 1980 Geborenen. Und dieses eine Prozent befindet sich praktisch komplett in der Chefetage von Zalando, wo das Durchschnittsalter bei 33,7 Jahren liegt. Dabei, so zeigen andere Studien, nimmt die Bereitschaft zur Innovation und Investition ohnehin im Alter ab. Darunter leidet vor allem der deutsche Mittelstand mit seinem hohen Anteil an Unternehmern im Rentenalter.

Nur jedes zwölfte Vorstandsmitglied bringt nach der Kawohl-Analyse überhaupt so etwas wie Digitalkompetenz aus dem vorherigen Job mit. Da ist es geradezu folgerichtig, dass die deutschen Konzerne bislang vor allem Abwehrmaßnahmen gegenüber der digitalen Transformation eingeleitet haben. Erst allmählich bricht sich dabei auch ein Verjüngungsprozess Bahn. Es gehört inzwischen zum guten Unternehmerton, einen Chief Digital Officer einzukaufen, der typischerweise von einem der Internet-Giganten wie Apple, Amazon oder Google abgeworben wurde. Sie sollen nach und nach die Schlafwandler in den Chefetagen aufwecken.

Nur wenige Unternehmen finden Gnade vor dem vernichtenden Urteil des Management-Professors. Allen voran und nicht wirklich überraschend gilt SAP als das digitalste unter den DAX-Unternehmen. Dahinter folgen Adidas, Airbus, Beiersdorf, Deutsche Bank und Deutsche Telekom. Und SAP-CEO Bill McDermott ist in den Augen der Analysten geradezu ein Vorzeige-Unternehmer. Dass der US-Amerikaner zugleich auch der mit Abstand am besten verdienende DAX-Chef ist, bekommt somit im Nachhinein noch ein professorales Placet.

Man mag die Studie als überzogen ablehnen und den Daimler-Chef Dieter Zetsche als lebendes Gegenbeispiel hervorheben, dass auch unter angejahrten Unternehmern so etwas wie der Wille zur Erneuerung zu finden ist. Tatsächlich aber lassen sich die Fakten nicht von der Hand weisen: die deutschen Unternehmer ergrauen, die Vorstandsetagen vergreisen.

Darin liegt eine ungeheure Chance. Wer heute durch die digitale Hintertür in die Chefetagen vordringt, hat gute Chancen, die Transformation der deutschen Wirtschaft aktiv zu gestalten. Es liegt an den Aufsichtsräten und Firmeninhabern diesen Verjüngungsprozess voranzutreiben und die Schlafwandler zu wecken. Das ist nicht ganz einfach, sagen Schlafforscher, aber ungefährlich.

Digitalien – Geteiltes Land

Eine Studie der Management-Schule WHU hat jetzt gezeigt, dass selbst unter den Unternehmen in Deutschland, die unter starkem Modernisierungsdruck stehen, die Formulierung einer ganzheitlichen Digitalstrategie die Ausnahme ist. Lediglich 20 Prozent der Befragten sehen sich so weit. Die Hälfte der Unternehmen hat immerhin die Zuständigkeiten für eine Strategie der digitalen Innovationen und Geschäftsmodelle benannt. Ebenfalls die Hälfte sieht sich immer noch zu schlecht über die Themen und Technologien der digitalen Innovation informiert. Und ebenfalls 50 Prozent – vermutlich die gleiche Hälfte – versteht das Thema Digitalisierung vor allem als Angriffspunkt für weitere Rationalisierungsschritte und zur Kostenersparnis.

Deutschland, geteiltes Digitalland. Dieser Eindruck drängt sich nicht nur bei der Befragung von Unternehmen und Managern auf. Auch die Versorgung mit der geeigneten Infrastruktur sorgt hierzulande für ein geteiltes Bild. Die einen – stadtnahen Nutzer – verfügen über große Bandbreiten im Internetverkehr. Die anderen – ländlichen Bewohner – müssen noch immer ihr Handy aus dem Fenster halten, wenn sie einen vernünftigen Empfang haben wollen. Hier wiederholt sich die Erfahrung aus der Einführung der Elektrizität: Das Land teilt sich in diejenigen, die über das Licht der Informationstechnik verfügen, und diejenigen, für die das nicht gilt. Die im Dunkeln sieht man nicht, sang Bertolt Brecht (in einem etwas anderen Zusammenhang).

Dass die Beurteilung der digitalen Gaben auch in der Bevölkerung in zwei Lager – aus Befürwortern und Gegnern – teilt, muss da nicht überraschen. Die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers hat jetzt Bundesbürger in einer repräsentativen Befragung nach ihrer Einschätzung der künstlichen Intelligenz befragt und ebenfalls ein in der Hälfte gespaltenes Land vorgefunden. Dass künstliche Intelligenz bei der Bewältigung der drängendsten und komplexesten Fragen der Menschheit – wie dem Klimawandel, demographischen Wandel oder medizinischen Herausforderungen, aber auch Schutz vor Cybercrime – helfen könnte, glaubt jeweils ziemlich exakt die Hälfte der Befragten.

Im Prinzip nehmen sogar neun von zehn Befragten an, dass KI in irgendeiner Form dabei helfen kann, bestehende Probleme zu meistern. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass KI-Forschung und KI-Systeme positiv konnotiert sind. 51 Prozent finden, dass KI negative Emotionen auslöse. Und dass künstlich intelligente Systeme künftig Arbeitsplätze vernichten werden, davon sind sogar zwei Drittel der Befragten überzeugt.

Die Umfragen zeigen eine klassische Umbruchsituation, wie sie nur mit der industriellen Revolution verglichen werden kann. Rund um die Dampfmaschine, die Eisenbahn und die Elektrifizierung haben sich seinerzeit viele absurde Mythen etabliert – wie die, dass der Mensch für die hohen Geschwindigkeiten nicht geschaffen sei. Tatsächlich zeigt sich auch heute, dass das Wissen über die Möglichkeiten und Limitierungen der künstlichen Intelligenz durchaus auch Anleihen aus dem Märchenland nimmt. Zwar haben nur sechs Prozent der Bevölkerung den Begriff „künstliche Intelligenz“ noch nie gehört. Doch drei von fünf Bundesbürgern können nicht erklären, worum es sich tatsächlich dabei handelt.

Wir brauchen eine neue Epoche der Aufklärung, in der wir den Menschen nicht nur auf die naturwissenschaftlichen Füße stellen, sondern auch seinen Kopf auf eine informationstechnisch-kognitive Zukunft ausrichten. So wie auch die nächste Bundesregierung den Breitbandausbau auf ihre Fahnen schreiben und die nächsten Fördermilliarden für digitale Projekte bereitstellen wird, muss sie auch beim Bildungsausbau in Deutschland kräftig nachlegen. Derzeit – auch das ist ein aktuelles Ergebnis – fehlen jährlich zwölf Milliarden Euro, wie das Institut der deutschen Wirtschaft in seinem Bildungsmonitor berechnet. Vom Kindergarten bis zur Hochschule besteht durchgehender Investitionsbedarf, um den Herausforderungen des demographischen wie des digitalen Wandels zu begegnen.

Denn das wissen die Bundesbürger über künstliche Intelligenz immerhin: Sie wird komplexere, kreativere, vernetztere, ganzheitlichere Arbeitsplätze schaffen und die Kärrnerarbeit den Maschinen überlassen. Nur zehn Prozent der Befragten glauben, dass künstliche Intelligenz Kreativität hervorbringt. Allerdings traut jeder Vierte der Technologie zu, im Jahr 2025 einen Nummer-Eins-Hit zu schreiben.

Oder sollte sich ereignen, was bereits mit dem Smartphone bei der Verbreitung des mobilen Internets zu beobachten war. Seit Jahren sind es nämlich die Internet-Giganten aus dem Silicon Valley, die dabei helfen, digitale Fertigkeiten einzustudieren. Ihr Erfolgsgeheimnis ist Convenience. Was leicht fällt, wird auch akzeptiert, wenn nicht gar geliebt. Es wäre nicht unwahrscheinlich, wenn dieser „Bildungsauftrag“ auch bei den aktuellen Digitaltechnologien durch Google, Amazon und Apple erfüllt wird. Denn schon ein Drittel der befragten Bundesbürger will zuhause einen digitalen Assistenten haben. Ebenso viele wollen sich durch künstliche Intelligenz bei der Steuererklärung helfen lassen. Und 28 Prozent wollen lieber mit einem KI-System als im Volkshochschulunterricht eine neue Sprache lernen.

Und nicht zuletzt: Den Papierkram im Job würden 22 Prozent doch ganz gerne einem digitalen Assistenten überlassen. Geteiltes Leid ist eben halbes Leid. Auch in Digitalien.

 

Mittelstand First

Im Reformationsjahr, in dem daran erinnert wird, dass Martin Luther vor 500 Jahren seine berühmt gewordenen Thesen wider den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hämmerte, gerät die Erinnerung an andere, vielleicht für den Weltenlauf minder wichtige Festlegungen bedauerlicherweise in den Hintergrund: So zum Beispiel die Verordnung Nr. 1234 der Europäischen Gemeinschaft über eine „gemeinsame Organisation der Agrarmärkte“, die vor ziemlich genau zehn Jahren verabschiedet wurde. Darin findet man auch „Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse“ wie etwa wie die Feststellung, dass ein Liter Milch – also das „Gemelk von einer oder mehreren Kühen“ – mit dem Fettgehalt von 3,5 Prozent mindestens 1028 Gramm pro Liter zu wiegen hat.

Wir wollen uns nun keineswegs über die Ordnungsliebe der Europäischen Kommission lustig machen – schließlich wünscht niemand das gepanschte oder gestreckte „Gemelk“, das bei nur 28 Gramm weniger pro Liter nur noch reines Wasser wäre – und damit etwas völlig anderes.

Aber allzu genaue – oder allzu vordergründige Kategorisierungen können in die Irre führen. Oftmals geht es vielmehr um gefühlte Unterscheidungen, die sich einer eindeutigen Definition entziehen. Die Europäische Kommission weiß zum Beispiel ganz genau, dass ein Unternehmen dann als mittelständisch zu bezeichnen ist, wenn es mit weniger als 250 Beschäftigten weniger als 50 Millionen Euro Umsatz generiert. Klein ist ein Unternehmen demnach, wenn es zwischen zehn und 49 Mitarbeiter beschäftigt und dabei zwischen zwei und zehn Millionen Euro umsetzt. Und „Kleinst“ nennt die Europäische Kommission jene Firmen, die bis zu neun Mitarbeiter haben und damit nicht über einen Umsatz von zwei Millionen hinauskommen. Jahr für Jahr geraten aber Hunderttausende von Unternehmen schon allein durch die Auswirkungen der Inflation in die nächsthöhere Kategorie, ohne dass sie real zulegen. Auch das ist eine Auswirkung des sogenannten Mittelstandsbauchs.

Die Einteilung ist auch insofern bemerkenswert, als einem Kleinstunternehmen damit ein Umsatz pro Mitarbeiter von bis zu 250.000 Euro zugetraut wird. Darüber hinaus wird aber eher ein Pro-Kopf-Umsatz von unter 200.000 Euro unterstellt. Tatsächlich sieht aber die Realität genau umgekehrt aus. Als Daumenregel kann gelten: Je größer ein Unternehmen ist, desto größer ist auch seine Produktivität gemessen am Pro-Kopf-Umsatz. Und es hat den Anschein, als würde die Europäische Kommission ihre Förderpolitik auch genau nach dieser Daumenregel ausrichten. So werden zum Beispiel 80 Prozent der Ausgaben, die im EU-Haushalt im Rahmen des Förderprogramms „Horizont 2020“ vorgesehen sind, an Großunternehmen vergeben, wie das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft betont.

Eine zweite Daumenregel besagt aber, dass kleine und mittelständische Unternehmen von Bürokratielasten stärker betroffen sind als Großunternehmen. Das liegt in der Natur der Sache: Der Aufwand für eine Betriebsgenehmigung beispielsweise ist die gleiche – unabhängig von der Zahl der Beschäftigten und der dabei erzielten Wertschöpfung. Der von der Entbürokratisierungsrunde um Edmund Stoiber geforderte „Bürokratie-TÜV“, der eine Gesetzesfolgenabschätzung mit Blick auf etwaige Bürokratiekosten betreiben sollte, ist leider bislang nur auf dem Papier verwirklicht. Zudem ist es unbestritten, dass global agierende Unternehmen mehr Möglichkeiten haben, Steuerabgaben dadurch zu verringern, dass sie Gewinne an einem Standort durch Verluste an einem anderen nivellieren können.

Es liegt in der Besonderheit der deutschen Wirtschaft – und wohl auch des deutschen Wirtschaftswunders, dass hierzulande die Definition von Mittelstand ganz anders formuliert wird als in der Europäischen Kommission. In Deutschland zählt auch zum Mittelstand, wer bis zu 500 Personen beschäftigt. Und darüber hinaus gehören auch deutlich größere Unternehmen zum klassischen Mittelstand, wenn sie Eigentum und Unternehmensführung verbinden – also in familiengeführten Firmen, die es in dieser Ausprägung in anderen europäischen Ländern gar nicht oder nur vereinzelt gibt. Hier könnte eine echte Mittelstandspolitik ansetzen. Denn das deutsche Erfolgsmodell ist ja – dies sei in aller Bescheidenheit, aber voller Selbstbewusstsein gesagt – durchaus nachahmenswert.

Denn ohnehin zeigt die Realität, wie wir sie aus Statistiken wahrnehmen, dass der Mittelstand – egal in welcher Definition – der Garant für Prosperität und Stabilität in Europa ist. Dies gilt es vor allem in Zeiten festzuhalten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Aber es sind 23 Millionen kleinste, kleine und mittlere Unternehmen (nach EU-Definition), die in der europäischen Staatengemeinschaft 90 Millionen Menschen „Lohn und Brot“ geben – das sind immerhin zwei Drittel aller Erwerbstätigen im Unternehmenssektor. Nimmt man den Agrarsektor hinzu, erhöht sich der Anteil sogar auf drei Viertel, denn trotz aller Konzentration in der Landwirtschaft wird der größte Teil der Erzeugerleistung von familiären Agrarbetrieben erbracht.

Mittelständische Unternehmen sind jedoch trotz des 2008 verabschiedeten „Small Business Act“ die Stiefkinder der europäischen Förderpolitik. Das sollte sich rasch ändern. Denn „Mittelstand First“ wäre eine vielversprechende Förderpolitik mit Blick auf die Digitalisierung. Auch hier gilt nämlich die Daumenregel, dass der Return on Invest bei Großunternehmen schneller eintritt als bei kleinsten, kleinen oder mittleren Unternehmen. Wer also lamentiert, dass Europa den Anschluss an die digitale Revolution zu verpassen droht, sollte vor allem diejenigen in ihre Weiterentwicklung fördern, die für die Beschäftigungssituation in der Europäischen Union den entscheidenden Beitrag leisten. Egal, wie die Kategorien definiert werden – „Mittelstand First“ ist Trump(f)!