Mittelstand First

Im Reformationsjahr, in dem daran erinnert wird, dass Martin Luther vor 500 Jahren seine berühmt gewordenen Thesen wider den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hämmerte, gerät die Erinnerung an andere, vielleicht für den Weltenlauf minder wichtige Festlegungen bedauerlicherweise in den Hintergrund: So zum Beispiel die Verordnung Nr. 1234 der Europäischen Gemeinschaft über eine „gemeinsame Organisation der Agrarmärkte“, die vor ziemlich genau zehn Jahren verabschiedet wurde. Darin findet man auch „Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse“ wie etwa wie die Feststellung, dass ein Liter Milch – also das „Gemelk von einer oder mehreren Kühen“ – mit dem Fettgehalt von 3,5 Prozent mindestens 1028 Gramm pro Liter zu wiegen hat.

Wir wollen uns nun keineswegs über die Ordnungsliebe der Europäischen Kommission lustig machen – schließlich wünscht niemand das gepanschte oder gestreckte „Gemelk“, das bei nur 28 Gramm weniger pro Liter nur noch reines Wasser wäre – und damit etwas völlig anderes.

Aber allzu genaue – oder allzu vordergründige Kategorisierungen können in die Irre führen. Oftmals geht es vielmehr um gefühlte Unterscheidungen, die sich einer eindeutigen Definition entziehen. Die Europäische Kommission weiß zum Beispiel ganz genau, dass ein Unternehmen dann als mittelständisch zu bezeichnen ist, wenn es mit weniger als 250 Beschäftigten weniger als 50 Millionen Euro Umsatz generiert. Klein ist ein Unternehmen demnach, wenn es zwischen zehn und 49 Mitarbeiter beschäftigt und dabei zwischen zwei und zehn Millionen Euro umsetzt. Und „Kleinst“ nennt die Europäische Kommission jene Firmen, die bis zu neun Mitarbeiter haben und damit nicht über einen Umsatz von zwei Millionen hinauskommen. Jahr für Jahr geraten aber Hunderttausende von Unternehmen schon allein durch die Auswirkungen der Inflation in die nächsthöhere Kategorie, ohne dass sie real zulegen. Auch das ist eine Auswirkung des sogenannten Mittelstandsbauchs.

Die Einteilung ist auch insofern bemerkenswert, als einem Kleinstunternehmen damit ein Umsatz pro Mitarbeiter von bis zu 250.000 Euro zugetraut wird. Darüber hinaus wird aber eher ein Pro-Kopf-Umsatz von unter 200.000 Euro unterstellt. Tatsächlich sieht aber die Realität genau umgekehrt aus. Als Daumenregel kann gelten: Je größer ein Unternehmen ist, desto größer ist auch seine Produktivität gemessen am Pro-Kopf-Umsatz. Und es hat den Anschein, als würde die Europäische Kommission ihre Förderpolitik auch genau nach dieser Daumenregel ausrichten. So werden zum Beispiel 80 Prozent der Ausgaben, die im EU-Haushalt im Rahmen des Förderprogramms „Horizont 2020“ vorgesehen sind, an Großunternehmen vergeben, wie das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft betont.

Eine zweite Daumenregel besagt aber, dass kleine und mittelständische Unternehmen von Bürokratielasten stärker betroffen sind als Großunternehmen. Das liegt in der Natur der Sache: Der Aufwand für eine Betriebsgenehmigung beispielsweise ist die gleiche – unabhängig von der Zahl der Beschäftigten und der dabei erzielten Wertschöpfung. Der von der Entbürokratisierungsrunde um Edmund Stoiber geforderte „Bürokratie-TÜV“, der eine Gesetzesfolgenabschätzung mit Blick auf etwaige Bürokratiekosten betreiben sollte, ist leider bislang nur auf dem Papier verwirklicht. Zudem ist es unbestritten, dass global agierende Unternehmen mehr Möglichkeiten haben, Steuerabgaben dadurch zu verringern, dass sie Gewinne an einem Standort durch Verluste an einem anderen nivellieren können.

Es liegt in der Besonderheit der deutschen Wirtschaft – und wohl auch des deutschen Wirtschaftswunders, dass hierzulande die Definition von Mittelstand ganz anders formuliert wird als in der Europäischen Kommission. In Deutschland zählt auch zum Mittelstand, wer bis zu 500 Personen beschäftigt. Und darüber hinaus gehören auch deutlich größere Unternehmen zum klassischen Mittelstand, wenn sie Eigentum und Unternehmensführung verbinden – also in familiengeführten Firmen, die es in dieser Ausprägung in anderen europäischen Ländern gar nicht oder nur vereinzelt gibt. Hier könnte eine echte Mittelstandspolitik ansetzen. Denn das deutsche Erfolgsmodell ist ja – dies sei in aller Bescheidenheit, aber voller Selbstbewusstsein gesagt – durchaus nachahmenswert.

Denn ohnehin zeigt die Realität, wie wir sie aus Statistiken wahrnehmen, dass der Mittelstand – egal in welcher Definition – der Garant für Prosperität und Stabilität in Europa ist. Dies gilt es vor allem in Zeiten festzuhalten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Aber es sind 23 Millionen kleinste, kleine und mittlere Unternehmen (nach EU-Definition), die in der europäischen Staatengemeinschaft 90 Millionen Menschen „Lohn und Brot“ geben – das sind immerhin zwei Drittel aller Erwerbstätigen im Unternehmenssektor. Nimmt man den Agrarsektor hinzu, erhöht sich der Anteil sogar auf drei Viertel, denn trotz aller Konzentration in der Landwirtschaft wird der größte Teil der Erzeugerleistung von familiären Agrarbetrieben erbracht.

Mittelständische Unternehmen sind jedoch trotz des 2008 verabschiedeten „Small Business Act“ die Stiefkinder der europäischen Förderpolitik. Das sollte sich rasch ändern. Denn „Mittelstand First“ wäre eine vielversprechende Förderpolitik mit Blick auf die Digitalisierung. Auch hier gilt nämlich die Daumenregel, dass der Return on Invest bei Großunternehmen schneller eintritt als bei kleinsten, kleinen oder mittleren Unternehmen. Wer also lamentiert, dass Europa den Anschluss an die digitale Revolution zu verpassen droht, sollte vor allem diejenigen in ihre Weiterentwicklung fördern, die für die Beschäftigungssituation in der Europäischen Union den entscheidenden Beitrag leisten. Egal, wie die Kategorien definiert werden – „Mittelstand First“ ist Trump(f)!

 

Content ist King

Der einflussreiche Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, der mit seinen Untersuchungen zum kindlichen Spracherwerb und zur Universalgrammatik nicht nur unser Verständnis von Kommunikationsmechanismen geprägt hat, sondern auch dadurch einer der Wegbereiter der künstlichen Intelligenz und der computerisierten Spracherkennung ist, war sich schon in den sechziger Jahren sicher: man kann komplexe Gedanken nur denken, wenn man auch über die entsprechenden Worte und Begriffe verfügt. Ein kleiner Wortschatz wäre demnach die Erklärung für gedankliche Untiefen. Oder anders ausgedrückt: wer seine Gedanken in 140 Zeichen einpasst, findet keinen Raum für Differenzierungen.

Und dennoch beweist die aktuelle Erfahrung, dass man mit einem permanent donnernden Twitter-Gewitter wirkmächtig sein kann. Die Kommunikationsmechanismen unserer Sharing Society sorgen schon dafür, dass noch die dümmsten Ansichten aufgegriffen und für den gesellschaftlichen Diskurs aufbereitet werden. Die Systemnervosität unserer digitalen Medienwelt sorgt dafür, dass alles gelesen, gehört, gesehen und mit Like-Läufen oder Shitstorms beantwortet wird. Jeder hat darin das Zeug zum Publizisten. Und jeder hat damit die Chance, seine ganz persönliche Eigenmarke zu prägen.

Originalität und Popularität sind dabei hilfreich, aber nicht zwingend. Vielmehr ist es wichtig, durch Regelmäßigkeit, Beständigkeit und Nachhaltigkeit die eigene Zielgruppe zu pflegen und zu bedienen. Voraussetzung ist freilich auch, diese Zielgruppe überhaupt erst einmal zu identifizieren und zu definieren. Nur so kann man das Interesse derjenigen erlangen, die man erreichen will.

In diesem Blog ist vor wenigen Wochen der 400. Text erschienen – das sind mehr als 400 „Meinungen und Deinungen“ zu aktuellen Themen der Informationswirtschaft. Sie haben dazu beigetragen, meine Eigenmarke Heinz-Paul Bonn zu prägen – wie auch die rote Brille und meine klaren Statements in IT- und Mittelstandsgremien. Sie nehmen Einfluss auf die laufende Debatte um den digitalen Wandel, Cloud Computing, Startups und Mittelstand und werden umgekehrt von der laufenden Debatte beeinflusst. Dabei verfolge ich keine unmittelbaren kommerziellen Interessen. Es ist die Freude eines Kölners am Diskurs.

Aber die Mechanismen des Content Marketings, wie sie im Bonnblog genutzt werden, eignen sich auch hervorragend für die Stärkung von Marken, Produkten und Positionen. Wir sind eine Gesellschaft von Geschichtenerzählern, die mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen die Welt der Dinge, Dienste und Gedanken anreichert. Ein Auto ist nicht einfach nur ein Auto, sondern ein Fahrerlebnis. Ein Haarschnitt ist keine Frisur, sondern Ausdruck eines Lebensstils. Eine Idee wird zur Strategie. – Und Polterei wird zur Politik.

Derzeit starren wir alle auf die Möglichkeiten, die die Vernetzung von Maschinen bringen wird: aus Millionen von Daten werden Informationen, daraus Analysen, die wiederum zu Entscheidungen führen. Content Marketing ist dies alles in einem – mit dem schönen Vorteil, dass es Menschen sind und nicht Maschinen, die diese Inhalte bereitstellen. Blogs, Posts, Videos sind in der Regel das Ergebnis eines intellektuellen, kreativen Prozesses. Sie werden von Menschen erstellt und von Menschen verarbeitet, indem sie Gedanken induzieren und Haltungen oder Handlungen vorschlagen. Wir definieren unsere Beziehungen durch Content, den wir teilen.

Das muss nicht immer so bleiben: immer häufiger treffen wir auf Content, der nicht unmittelbar das Ergebnis einer menschlichen Gedankenleistung ist. Ganze Wahlkämpfe werden inzwischen durch Maschinen beeinflusst, die einfach nur einer vorgegebenen menschlichen Absicht folgend Beiträge aufgreifen, multiplizieren oder modifizieren. Diese Chatbots reduzieren die Diskussion auf Beeinflussung. Sie führen den Diskurs in den Konkurs.

Dabei ist es interessant zu sehen, wem die digitale Gesellschaft besonders gerne und bereitwillig lauscht (und wahrscheinlich auch glaubt): bekannte Marken stehen ganz oben auf der Liste des Vertrauens, dicht gefolgt von persönlich bekannten Quellen. Damit genießen Blogger in ihrer jeweiligen Community mehr Vertrauen als die traditionellen Medien in der breiten Leserschaft. Persönliche Erfahrungen und Empfehlungen werden höher gehandelt als die Wiedergabe von Beiträgen anderer. Interaktion ist wichtiger als Konsumtion.

Wer etwas verkaufen will, muss eine Geschichte um das Produkt liefern, die sowohl den Faktencheck bedient als auch die Emotionen. Content ist nun mal King – auch und gerade in der egalitären Web-Community.

Schmerztherapie

Die Nachrichten könnten kaum besser sein: der deutsche Außenhandel hat im März das stärkste Monatsergebnis überhaupt hingelegt. Waren im Wert von 118,2 Milliarden Euro wurden international verkauft. Und als wäre es eine direkte Antwort auf die internationale Schelte über den deutschen Exportüberschuss legte auch der Import mit rund 93 Milliarden Euro kräftig zu. Damit schloss die deutsche Wirtschaft ein äußerst erfolgreiches erstes Quartal 2017 ab – und das, nachdem bereits 2016 mit 1,2 Billionen Euro grandios verlaufen ist.

Als super, möchte man meinen. Doch Hans-Toni Junius, der Vorsitzende des gemeinsamen BDI/BDA-Mittelstandsausschusses im Bundesverband der Deutschen Industrie, warnt: „Die Politik lässt sich von guten Wirtschaftszahlen blenden und erkennt nicht, dass der Leidensdruck im Mittelstand steigt. Es ist ein Alarmsignal, dass die Innovationstätigkeit seit einigen Jahren abnimmt.“ Als eine Art Schmerztherapie legte der BDI deshalb jetzt Handlungsempfehlungen vor, die vor allem die Investitionen in die digitale Infrastruktur stärken sollen. Aber auch hausgemachte Schmerzpunkte müssen behoben werden: So überaltert die Geschäftsführung im Mittelstand zusehends – und mit dem Alter sinken, das beweisen Studien, sowohl die Investitionsbereitschaft als auch die Innovationsfähigkeit.

Am meisten, so beklagt Junius, leide der Mittelstand unter den Bürokratielasten – eine Kritik, in der sich die etablierten Unternehmen im Einvernehmen mit Startups und Venture Capitalists wissen. Auch nach der von Edmund Stoiber geleiteten Entbürokratisierungsinitiative drücken die Belastungen etwa aus Umwelt-, Energie-, Steuer- und Sozialgesetzgebung unverändert besonders auf mittelständische Unternehmen.

Als Beispiel rechnet der BDI in seinen Handlungsempfehlungen die im internationalen Vergleich sehr hohen Energiekosten durch, bei denen hierzulande der staatliche Anteil bei bis zu 54 Prozent liegt. Wettbewerber in den USA und Großbritannien hätten hier nur eine halb so hohe staatliche Belastung zu stemmen.

In einer Paraphrase auf das bekannte Brandt-Wort forderte Junius, die Politik müssen „mehr Wirtschaft wagen“. Als Beispiel nennt der BDI in seinen Handlungsempfehlungen die Tatsache, dass Deutschland eines der wenigen Länder sei, das auf das Instrument der staatlichen Forschungsförderung verzichte. In der Folge ist der Beitrag der Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern für Forschung und Entwicklung auf 8,3 Milliarden Euro oder 16 Prozent der Gesamtleistung für Innovationen gesunken. Bei Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern liegt der Anteil nur bei elf Prozent. Der Mittelstand zieht sich also mehr und mehr aus der Innovationstätigkeit zurück.

Ein Forschungsbonus aber, so die Rechnung des BDI, würde vor allem kleinen und mittelständischen Unternehmen zusätzliche Anreize geben, in die Erneuerung ihrer Prozesse und Produkte zu investieren. Gerade mit Blick auf das Internet der Dinge und der darauf aufbauenden vierten industriellen Revolution sind erhebliche Investitionen in noch unerforschte Technologien und Geschäftsmodelle vonnöten. Hier Anreize zu schaffen, wäre in der Tat eine Maßnahme für künftiges Wachstum und einen wettbewerbsstarken Mittelstand.

Wettbewerbsstärke wird sich aber in der Zukunft vor allem dadurch zeigen, dass Unternehmen einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie folgen. Nach Umfragen des ZEW sind es bislang weniger als ein Viertel der mittelständischen Firmen, die sich hier zu einer 360-Grad-Umsicht auf den digitalen Wandel durchringen konnten. Die Politik muss hier investiv bis 2025 nicht nur die Umsetzung der Gigabit-Infrastruktur flächendeckend erreicht haben, sondern auch gesetzgeberisch für die Rahmenbedingungen für mehr Sicherheit der Daten und der Informationstechnik sorgen.

Und während der Mittelstand insbesondere durch den Fachkräftemangel ausgebremst wird, obwohl junge Deutsche unverändert lieber in ein Arbeitsverhältnis wechselten als sich selbständig zu machen, sollten die Rahmenbedingungen für industrielle Existenzgründungen weiter optimiert werden. Dazu gehört einerseits eine verbesserte Ausbildung, die ein besseres Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge mit einbezieht. Andererseits sind es aber gerade die industriellen Startups, die – im Unterschied zur Digitalwirtschaft – mit hohen Anfangsinvestitionen zu kämpfen haben. Hier müsse die Politik einen leichter zugänglichen Finanzierungsrahmen schaffen.

Nie waren die Zeiten so günstig, um mit einer dezidierten Mittelstands- und Gründerpolitik die Bedingungen für das morgige Wachstum zu schaffen und zugleich im internationalen Digitalisierungswettlauf Boden gut zu machen. Hier besteht in der Tat deutlich Luft nach oben: im OECD-Vergleich liegt der Exportweltmeister Deutschland in Sachen Digitalisierung auf einem blamablen 28. Platz – von 32 Ländern.

Die Schmerztherapie im Mittelstand muss deshalb sowohl am Symptom als auch an der Ursache ansetzen: Dort, wo die Rahmenbedingungen verbessert werden können, muss dies zügiger geschehen als bisher. Aber für den Mittelstand gilt auch: Die Rückkehr zur legendären Innovationsbereitschaft ist die beste Voraussetzung für Wachstum in der Zukunft.

Brain für Millionen

Es ist schön, wenn man eine so große Fangemeinde hat: 500 Millionen Geräte weltweit nutzen mindestens einmal im Monat Windows 10. Und 141 Millionen Anwender stellen mindestens einmal im Monat Microsofts Sprachassistenten Cortana eine Frage. Und 90 Prozent der „Fortune 500“-Unternehmen nutzen bereits Cloud-Dienste von Microsoft. Und für diese Anwender – aber mehr und mehr auch für Apple-User – hat Microsoft jetzt auf der Build-Entwicklerkonferenz reichlich sensationelle KI-Services bereitgestellt. Sie bieten mehr Brain für Millionen – und werden gleichzeitig Millionen für Microsoft gewinnen.

Dabei zielt Microsoft eindeutig auf das Internet der Dinge, denn die Dinge im Internet benötigen zu ihrer Steuerung künftig mehr künstliche Intelligenz, die über die Cloud für jedes Unternehmen genutzt werden kann. Dazu soll nicht nur eine gemeinsame Echtzeit-Datenbank unter dem Codenamen Cosmos die zahllosen Daten, die an zahlreichen Standorten verteilt liegen, konsolidieren und Abfragen im Bereich von Millisekunden beantworten. Mit ein paar Programmierzeilen sollen auch bestehende Anwendungen in die Lage versetzt werden, auf KI-Dienste zurückzugreifen. Ohne Microsoft – so die Message an die Entwicklergemeinde – würden Softwarehäuser Jahre und Hunderttausende Dollar benötigen, um Unternehmenslösungen durch künstliche Intelligenz zu erweitern. Mit Microsoft kostet es voraussichtlich nur wenige Cent – pro Transaktion, versteht sich.

Künstliche Intelligenz soll in allem stecken, was Algorithmen hat – von Lösungen für die Xbox über Windows, von Bing bis Office. So formulierte es Harry Shum, Executive Vice President der für AI und Research zuständigen Microsoft Group bereits im Vorfeld der Build. Und immerhin 29 spezialisierte KI-Dienste aus der Cloud sind es dann geworden, die auf der Entwicklermesse in Seattle vorgestellt wurden. Darunter ist unter anderem der Sprachassistent Cortana, der ebenfalls „mit wenigen Lines of Code“ eingebunden werden kann.

Der spektakulärste KI-Dienst aus der Cloud dürfte der „Video-Indexer“ sein, mit dem Videos automatisch ausgewertet werden können. Der Indexer erkennt bei Videos, die auf die Azure-Plattform hochgeladen werden, rund 170.000 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Zeitgeschichte, die in einer vorbereiteten Datenbank hinterlegt sind. Für alle anderen müssen die Anwender die Personen zunächst benennen, ehe der Indexer die Akteure auf weiteren Szenen wiedererkennt. Bei Überwachungskameras können so leicht Mitarbeiter und angehörige von unbefugten Personen unterschieden werden. Doch das System hat Grenzen: Zwar können die Spieler eines Fußballspiels von der KI-Software verfolgt werden, für die Zehntausenden von Zuschauern fehlt aber noch die Performance.

Mit Hilfe von Optical Character Recognition und Spracherkennung schreibt der Indexer zum Beispiel bei einem Meeting-Mitschnitt die im Video wiedergegebenen Texte nieder und ordnet sie einzelnen Sprechern zu. Dabei bietet ein zweiter Cloud Service die Möglichkeit, fremdsprachige Texte unmittelbar zu übersetzen und einzublenden. Zusätzlich soll der Indexer auch in der Lage sein, durch Gesichtsanalysen Emotionen zu erkennen und so zum Beispiel einen Hinweis darauf geben, wie eine bestimmte Person gegenüber dem gesprochenen Text eingestellt ist.

Was nach Kontrollwahn à la NSA und Big Brother klingt, hat durchaus praktische Hintergründe die weit über die Auswertung von Überwachungskameras oder von Meeting-Mitschnitten hinausgeht. So lassen sich diese Analysen im Marketing einsetzen, wo zielgruppengerechte Werbung mit Hilfe des Video Indexers optimiert werden kann. Einsatzmöglichkeiten auch im Produktions- und Logistikumfeld sind denkbar.

Zwölf Funktionen bietet die automatische Analyse bereits. Neben der Gesichtserkennung, der Niederschrift beziehungsweise Übersetzung von gesprochener Sprache ist der KI-Service auch in der Lage, Sprache und Personen einander zuzuordnen. Darüber hinaus lassen sich Schlüsselwörter identifizieren, die entweder gezielt gesucht oder – weil politisch unkorrekt – überblendet werden können. Die Identifikation von zentralen Standbildern aus dem Video soll ebenfalls funktionieren.

Es hat den Anschein, als hätten sich die Microsoft-Verantwortlichen selbst ein wenig darüber erschreckt, was für ein Überwachungsmonster sie da möglicherweise erweckt haben. Deshalb sprach CEO Satya Nadella auch eiligst von der „Demokratisierung“ dieser Möglichkeiten, die nunmehr nicht nur den Geheimdiensten zur Verfügung stehen. Nachdenklich fügte Nadella hinzu, dass es an den Menschen liege, die Technik gewinnbringend und zum Positiven hin zu nutzen.

Man wird sehen. Die Erfahrung lehrt bedauerlicherweise das Gegenteil.