Digitalisierung: Keine Investition ohne Inspiration

Wer nichts macht, macht nichts verkehrt – abgesehen von der Tatsache natürlich, dass Nichtstun ohnehin der größte Fehler ist. Dies gilt analog auch für die digitale Welt. Im Sommer 2016 sagten drei von vier mittelständischen Unternehmen, sie hätten noch keine ausreichende Digitalstrategie. Das aber war durchaus ein Fortschritt, denn ein Jahr zuvor hatten ungefähr ebenso viele noch keinen Schimmer, dass sie eine brauchten.

Aber damit beginnen die Probleme: Nach der IT-Trendstudie von Capgemini haben 60 Prozent der befragten CIOs Schwierigkeiten mit dem Fokus und der Umsetzung ihrer Digitalstrategie. Im letzten Jahr waren es nur 41 Prozent. Das scheint durchaus ein Beweis dafür zu sein, dass die Beschäftigung mit dem Thema an Ernsthaftigkeit und Tiefe zugenommen hat. Jetzt fördern die Digitalisierungsprojekte Probleme auf praktisch allen Ebenen im Unternehmen zutage.

Die Autoren der Studie vermuten allerdings auch einen Mangel an Inspiration bei der Innovation: „Neben der fehlenden Koordination der Projekte, dem Know-how und den entsprechenden Mitarbeitern mangelt es vor allem an Ideen“, beklagen die Autoren der IT-Trends und stellen fest, dass die meisten Unternehmen derzeit damit beschäftigt seien, überhaupt erst einmal Informationen zu sammeln und die internen Prozesse digital abzubilden und zu vernetzen. Woran es aber völlig fehle, sei eine konkrete Vorstellung davon, wie daraus neue Produkte und Services entwickelt werden können. Das Fazit: „Von Innovation ist im Moment also noch wenig zu spüren.“

In der Tat dürften sich die Investitionen in smartere Maschinen und besser vernetzte Systeme so lange nicht wirklich auszahlen, wie damit Business as usual fortgeführt wird. Die eigentliche Herausforderung bei der Definition einer Digitalstrategie besteht nicht im Austausch des Maschinenparks, sondern im Neuzuschnitt der Abteilungen. Und dabei zeigt sich, das neue Kompetenzen benötigt werden. Die aber sind auf dem ohnehin leergefegten Arbeitskräftemarkt praktisch nicht zu finden. Doch Schulung und Weiterbildung ist nur dann eine Lösung, wenn man auch weiß, welche Expertise tatsächlich benötigt wird.

Und die ergibt sich schließlich aus einer Neudefinition von Produkten, Kundenbeziehungen und Märkten. Diese Erkenntnis jedenfalls diktierten Entscheider, deren Unternehmen ihre Produktion bereits auf das Internet der Dinge umgestellt zu haben glaubten, dem Beratungsunternehmen Vanson Bourne. Diese „Early IoT Adopters“, so der Namen der Studie über erste Erfahrungen auf dem Weg ins Digitale, fanden sich nach der Umstellung auf smarte Systeme eigentlich erst am Anfang des Projekts. Denn der Nutzen beispielsweise einer „Losgröße 1“-Strategie ist gering, wenn sich nicht auch Marketing und Vertrieb auf die Individualisierung der Kundenanfragen einstellen. Wer weiter Massenware produziert und klassische Lagerbestände vorhält, hat die Vorteile der Digitalisierung zwar noch nicht verspielt, aber zumindest wertvolle Chancen vertan.

Bis allerdings alle Abteilungen an einem Strang ziehen, vergehen Monate. Es braucht offensichtlich Zeit, bis alle Player im Unternehmen die gemeinsame Vision hinter einer Digitalstrategie teilen und für sich umsetzen. „Für sich“ könnte dabei schon der nächste Fehler sein, denn so vernetzt die digitalen Systeme sind, so abgeteilt sind Abteilungen in der klassischen Unternehmensorganisation. Diese Erkenntnis hat die Früheinsteiger offensichtlich völlig überrascht. Digitalisierung ist weniger eine technische Herausforderung, als vielmehr eine organisatorische. Wer das frühzeitig beherzigt und die eigene Unternehmensstruktur zunächst an die Digitalstrategie anpasst, kann offensichtlich schneller Nutzen aus den Investitionen in Informationstechnik und Maschinen ziehen. Der klassische Ansatz aber ist, erst die Technik zu ändern und dann die Organisation anzupassen.

Das aber wäre ein ebenso folgenschwerer Fehler wie Nichtstun – nur teurer.

Deutscher Komplexitäts-Komplex

Es ist alles noch viel komplexer – und das ist auch gut so. Oder doch nicht?

Unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bastelt die Deutschland GmbH an ihrem neuesten Exportschlager. Denn die globale Vernetzung von Maschinen, Sensoren, Aktoren und menschlichen Akteuren soll den nächsten Schub bringen. Der Deutschen liebste Tugend, die kontinuierliche Geschäftsprozessoptimierung, soll durch „Industrie 4.0“ auf den nächsten Fertigungs- und Dienstleistungslevel gehoben werden.

Ein Mini-Kondratieff tut sich da auf, wie sich jetzt die Diskussionsteilnehmer in den Foren rund um die Messe transport logistic in München und bei der Fachtagung „Future Business Clouds“ in Berlin einig waren. „Industrie 4.0“ das ist im historischen Zusammengang nicht weniger als die vierte Stufe der industriellen Revolution, deren Vorstufen die Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung waren. Und jetzt eben Vernetzung im globalen Rahmen.

Dabei kommen die ersten Sendboten dieses Paradigmenwechsels noch recht überschaubar daher: InBin, zum Beispiel, der vom Fraunhofer Institut für Materialwirtschaft und Logistik entwickelte „intelligente Behälter“, mit dem Kommissionierprozesse verbessert und gesteuert werden können. Der Bin verfügt über ein Display, in dem die Kommissionieraufträge abgerufen, dargestellt und  die einzelnen Picks angezeigt und bestätigt werden können. InBin reiht sich damit auf den ersten Blick ein in die interaktiven Kommissionierstrategien Pick-to-Light oder Pick-by-Voice, die vor allem darauf abzielen, unnötige Handgriffe im Pick-Prozess zu eliminieren und die Fehlerquote zu reduzieren. Aber ist das dann schon „Industrie 4.0“?

Natürlich können solche intelligenten, intervernetzten, interaktiven Innovationen wie InBin mehr – und in Zukunft noch viel mehr. Sie sind aber vor allem flexible Subsysteme, die sich dynamisch mit anderen Subsystemen zu einem durchgängigen, belastungsfähigen Prozess zusammenfinden können, in dem sie dann auch ereignisgesteuert auf Veränderungen im Betriebsablauf reagieren. So wie das Fließband im Automobilbau, das erkennt, dass die Produktion hinter dem Zeitplan zurückbleibt und deshalb die nächste Just-in-Sequence-Lieferung kurzfristig verschiebt und so einen Stau vermeidet.

Das klingt nicht unbedingt nach Paradigmenwechsel. Aber das war der erste schwach leuchtende Glühdraht auch nicht – und doch hat er die elektrische Revolution eingeleitet, nein: eingeleuchtet.

Es ist gerade die Ingenieurleistung des deutschen Mittelstands, die die weltumspannende Vision von der Industrie der vierten Generation aus ihrem Komplexitäts-Komplex holt und in einer Art Evolution der kleinen Schritte zu umsetzbaren Innovatiönchen umdeutet.

Und das ist auch wirklich gut so. Besser kleine, schnuckelige Neuerungen im Rahmen einer großen Vision als sperrige, unverkäufliche Großkonzepte, die wegen ihrer Langfristperspektive zum Ladenhüter werden. Davon hatten wir im komplexitätsvernarrten Europa schon genug. Es sind vor allem die Amerikaner, die uns zeigen, wie man mit unvollkommenen, aber verkaufbaren Neuerungen einen globalen Wandel herbeiführen kann. „Industrie 4.0“ kommt nicht in einem großen, globalen Komplex, sondern In Trippelschritten. Da gehen Jahrzehnte ins Land.

Und auch das ist gut so.